Religion und Kultur – Spiegelungen in der Stadt.

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Maier

 

Prof. Dr.Dr.h.c. Hans Maier befasst sich mit „Religion und Kultur“ anhand des Beispiels einer deutschen Stadt nach dem Aufbau in der Nachkriegszeit und nach der Wiedervereinigung. Wenn man den Namen Dresden weglässt, wo er einen Vortrag im Rahmen der 800. Jahr- Feier der Stadt Dresen am 14. Oktober 2006 hielt, sind seine Gedanken für jede andere Stadt anwendbar. Die Problematik „ Religion und Kultur“ bleibt immer bestehen, so lang die Menschheit im laufe der Geschichte weiterhin existiert. ( N.K. T.T. )

 

Alle menschlichen Gesellschaften haben einmal begonnen und werden eines Tages enden. Auch das, was wir Bürgergesellschaft, Stadt, Gemeinde nennen, unterliegt diesem Gesetz. Bei einem Gedenken an 800 Jahre Stadtgeschichte wie  in diesen Wochen fällt der Blick natürlich vor allem auf die Anfänge Dresdens – auf den ruhmvollen Beginn der „kunstgebildeten Hauptstadt“, wie der Dichter und Kritiker Friedrich Schlegel sie nannte, der längere Zeit hier lebte und auf einem Dresdner Friedhof  begraben liegt. „In dem schönen Dresden“, schrieb er, „erwachte zuerst mein jugendliches Gefühl, da sah ich die ersten Kunstwerke, da war ich mehrere Jahre ununterbrochen vertieft in das Studium des Altertums, und da lebte ich oft und noch zuletzt die glücklichsten Tage unter Menschen, bei denen ich mich einheimischer fühlte, als bei allen andern.“  Aber auch an Niedergang und Verfall wird man denken, an Perioden der Destruktion, wie sie Dresden in seiner Geschichte mehrfach erlebt hat – am schrecklichsten bei dem britisch-amerikanischen Luftangriff vom 13. und 14. Februar 1945, der die Stadt in ein Ruinenfeld verwandelte -, aber auch an nachfolgende Zerstörungen der Stadt beim Abriss und beim Wiederaufbau.

Unabhängig von ihrer Gründung und ihrem möglichen Ende in der Zukunft,  haben Städte auch im Alltag täglich und stündlich mit dem Anfang und mit dem Ende zu tun –  mit dem Anfang und Ende ihrer Bürgerinnen und Bürger nämlich. Städte helfen den Ungeborenen in Geburtsstationen oder bei Hausgeburten ins Leben, sie  begleiten die Alten in Krankheit und Tod, sie sorgen dafür, dass die Toten begraben werden, und bewahren ihr Gedächtnis in Gräbern und Gedenkstätten. Sie registrieren Geburten und verzeichnen Sterbefälle. Kurz, in der Stadt wird der Mensch als Person wahrgenommen, als unverwechselbare Individualität, hier hat sich im Lauf der Zeit sein Rechtsstatus, sein  Zivilstand herausgebildet – mit all den Einrichtungen, die dazugehören. Im bürgerlichen Gemeinwesen berühren sich Religion und Kultur.

Ich will über Religion und Kultur in der Stadt in sechs  Kapiteln berichten: 

-   Anfang und Ende im Kontext der Religion

-   Geburt und Tod im staatlichen Zivilstand

-   Reaktionen der Seelsorge

-   „Keine Stadt ohne Friedhof“

     -    Die Stadt – ein Markt der Religionen?

-   Die Kirchen und die Künste

 

I.  Anfang und Ende im Kontext der Religion

Lange Zeit waren es kirchliche Organe, die den Personenstand registrierten und beurkundeten – also die Geburt, die Heirat und den Tod. Das hatte seinen Grund darin, dass anfänglich nur der Klerus die Schreibkunst beherrschte. Es lag aber auch daran, dass sich viele  Tätigkeiten, die  heute der Staat ausübt, ursprünglich in der Kirche entwickelt haben: das Personenstandswesen, die Sorge für Arme, Kranke und Bedürftige,  Erziehung und Bildung, die Forschung und die Wissen-schaft.

Diese Aktivitäten entstanden daraus, dass die Kirche in Europa zunehmend auf das weltliche Gemeinwesen einwirkte. In den Gemeinden, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in Ökonomie und Politik suchte man nach der rechten Ordnung in der christlichen Welt.  Daher die Aufmerksamkeit für den Personenstand: der Einzelne wurde – über Familie, Gruppe, Sippe hinaus – in seiner Individualität wahrgenommen. Daher die Wichtigkeit von Erziehung und Bildung, die sich aus Christenlehre und Katechese entwickelten. Daher die Bedeutung des Armen- und Krankenwesens: in einer christlichen Umwelt durfte kein Mensch ins Leere fallen; die Gemeinschaft musste  ihn auffangen, so gut es ging.

Die Einflüsse kirchlicher Erziehung, vielfältig sich wiederholend in Gottesdienst, Predigt, Schule formten unmerklich den Geist der Menschen. Inmitten des Aufstiegs der partikularen und feudalen Kräfte im Mittelalter blieb  die Kirche der mächtigste Faktor der geistigen Einheit und des sozialen Zusammenhalts. In berühmten Worten hat Karl Friedrich Eichhorn in seiner „Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte“ (1843) die Wirkung des verbindenden Glaubens innerhalb der Vielfalt kleiner und kleinster Einheiten gewürdigt: „So aufgelöst aber auch eine Nation mit diesem Systeme der Verfassung, so zersplittert ihre Kraft in eine Menge von einzelnen kleineren und größeren Gesellschaften mit verschiedenem Rechte und verschiedenem Interesse beim ersten Anblick zu sein scheint, so wurde sie doch durch Übereinstimmung der Sitten, Meinungen, und besonders durch Einheit des Glaubens zu einem wahrhaft organischen Ganzen gebildet, und dadurch auch äußerlich zusammengehalten.“

Jahrhundertelang wurden Geburt und Tod der Bürger im Abendland in den Kir-  chenbüchern verzeichnet. Diesen Aufzeichnungen kam die Glaubwürdigkeit und Beweiskraft öffentlicher Urkunden zu. Tauflisten und Sterbelisten bildeten eine Vorform der modernen Personenstandsregister. Lange Zeit umgriff ja die kirchliche Verwaltung  die staatliche, die sich erst im Aufbau befand. Geistliche führten die Standesregister, schrieben Urkunden, gaben Erklärungen ab. In den skandinavischen Staaten  und in Großbritannien tun sie das übrigens bis heute.

Ins bürgerliche Leben trat man im christlich geprägten Europa  durch die Taufe ein. In der Taufe empfing man auch den künftigen Vornamen, meist einen Heiligennamen – im Englischen wird der Vorname ja bis heute „Christian name“ genannt. So hingen Geburt, Taufe, Namengebung in Europa bis in die neuzeitlichen Jahrhunderte hinein aufs engste miteinander zusammen. Der Name wurde zur „Ikone der Person“, er diente als singuläres Erkennungszeichen. Er war weit mehr als ein zufällige Bezeichnung, war keineswegs nur „Schall und Rauch“.

Ähnlich wie mit dem Anfang steht es auch mit dem Ende des Lebens. Errichtete die Antike Begräbnisorte meist außerhalb der Städte und Gemeinden, so zogen die Toten im mittelalterlichen Europa in die Vorräume der Kirchen ein – und oft wurden sie auch in die Kirchen selbst bestattet, vor allem wenn es sich um Geistliche, Adelige, Wohltäter handelte.

Rund um die Kirchen entstanden Friedhöfe oder, wie die sprechenden Namen lauten, Kirchhöfe und Gottesäcker. Den Lebenden scheinen die in nächster Nähe beerdigten Toten keine besonderen Schwierigkeiten bereitet zu haben, sieht man von den Epidemien des Spätmittelalters, vor allem der Pest, ab, die vorübergehend zum Ausweichen in entferntere Grabstätten zwangen, oder von den wechselseitigen Exklusionen der Religionsparteien aus den jeweiligen Friedhöfen in der Zeit der Reformation und Gegenreformation. (Auch in Dresden gibt es, wie bekannt, einen protestantischen und einen katholischen Friedhof!).

Entscheidend war, dass man ad sanctos bestattet wurde - den Gräbern der Heiligen oder ihren Reliquien so nahe wie nur möglich. Das hatte erhebliche praktische Auswirkungen. „Man hat Mühe“, schreibt Philippe Ariès in seinen „Studien zur Geschichte des Todes im Abendland (1980)“, sich die Zusammenpferchung von Leichnamen vorzustellen, die unsere Kirchen und Klöster jahrhundertelang bargen! In regelmäßigen Abständen hob man, um Platz zu schaffen, die kaum ausgebleichten Gebeine aus dem Erdreich der Friedhöfe und den Böden der Kirchen aus, schichtete sie in den Galerien der Beinhäuser, in den Söllern der Kirchen oder unter den Gewölbezwickeln auf oder verscharrte sie in unbenutzbaren Lücken, an Pfeiler- und Mauerwerk“ (138).

Man war gewohnt, mit den Toten zu leben. Man hielt ihr Gedenken wach durch Gebet und Gräberpflege. Am Fest Allerseelen gedenkt die römische Kirche seit fast tausend Jahren der abgeschiedenen Gläubigen, der „Armen Seelen“. Das Fest geht auf  Initiativen des Klosters Cluny im 11. Jahrhundert  zurück. Im Stundengebet wird der Toten täglich in der abschließenden Fürbitte der Vesper gedacht. Die evangelischen Christen begehen den letzten Sonntag des Kirchenjahres als Totensonntag oder Ewigkeitssonntag. Den christlichen Festen folgten die weltlichen nach: der Sonntag vor dem Totensonntag wird in der Bundesrepublik Deutschland seit 1952 als Volkstrauertag begangen, im Mittelpunkt steht das Gedenken an die Toten der Weltkriege und die vom Nationalsozialismus Ermordeten.

Taufritus und Sterbegebete, das „Ich taufe Dich“  für die Neugeborenen und die Bitte um Ewige Ruhe für die Toten – das umschreibt präzise Anfang und Ende des Lebens im Kontext der Religion. Kirchliche Riten formten die großen „Pas- sagen“ des Lebens, gaben ihnen Würde und Feierlichkeit, sorgten dafür, dass sie im Gedächtnis haften blieben.  So war es lange Zeit auch  in einer Stadt wie Dresden, bis in der Zeit nach 1800 der Staat als weltlicher Urkundsbeamter auf den Plan trat und die  Kirchenbücher allmählich durch Personenstandsregister und bürgerliche Standesbücher ersetzt wurden.

 

II.  Geburt und Tod im staatlichen Zivilstand

In der Neuzeit – der Staat  war mittlerweile zur Eigenständigkeit erwachsen – verloren die Dienste der Kirche ihre universelle Geltung. Sie wurden eingegrenzt, partikularisiert, relativiert. Vieles von dem, was die Kirche bis dahin allein getan hatte, übernahm nun der Staat ganz oder in Teilen – sei es als Erbe, der die Kirche ablösen wollte, sei es als Konkurrent, der mit ihr rivalisierte, sei es als Partner, der die Arbeit mit ihr teilte. Zwischen kirchlichem und staatlichem Handeln entwickelten sich Abgrenzungen, aber auch unterschiedliche Schwerpunkte. Es entstanden Arbeitsteilungen, Überschneidungsbereiche und  Felder eigenständigen Handelns.

Die Eingrenzung und Spezifizierung kirchlicher Tätigkeiten in der Neuzeit ist ein zentraler Vorgang der europäischen Geschichte. Wir betreten hier ein weites, fast uferloses Feld. Noch immer sind die Einzelheiten viel zu wenig untersucht.  Ich will im folgenden nur einige Grundlinien andeuten.

Im katholischen Europa hat die Kirche an ihren Aktivitäten in den Bereichen Personenstand, Gerichtswesen, Bildung, Sorge für Arme und Kranke lange Zeit  festgehalten. Hier trat erst mit der Französischen Revolution ein grundsätzlicher Wandel ein. Die neuen Formen der Zentralisierung beim Staat griffen im Lauf des 19. Jahrhunderts auf viele Länder über. Einige widerstanden lange; in Spanien beispielsweise fiel das Gerichtsprivileg für Geistliche erst Ende des 20. Jahrhundert endgültig fort – wie auch die katholische Staatskirche hier länger als anderswo gedauert hat. Generell endeten die institutionellen Verbindungen von Kirche und Staat in der katholischen Welt mit dem Zweiten Vaticanum. In der Gegenwart gibt es weltweit keine einzige katholische Staatskirche (oder Staatsreligion) mehr. In den Bereichen Bildung und Erziehung und der Sorge für Alte, Kranke, Behinderte, Bedürftige freilich blieb die Kirche nach wie vor aktiv – mit Unterstützung der Gläubigen, aber auch weiter Teile der Gesellschaft.

Im Unterschied zur katholischen Kirche haben die Kirchen der Reformation schon im 16. Jahrhundert einen ersten „Säkularisierungsschub“ erlebt. Viele ihrer alten Tätigkeiten im Erziehungs- und Bildungswesen wurden Sache des Staates – eines Staates freilich, der sich als Anwalt des christlichen Glaubens empfand und der alles tat, um seinen Bürgern ein Leben im Geist des Christentums zu ermöglichen. Das geistliche Regiment verschwand nicht – es wurde in die Staatstätigkeiten eingeschlossen. So entstand ein „um die Kirche vermehrter“ Staat (Kurt von Raumer).

Der lutherische deutsche Territorialstaat – Kursachsen ist ein Musterbeispiel – hat den Machtzuwachs, den er durch den Einzug des Kirchengutes und die Loslösung von der römischen Jurisdiktion erfuhr, nicht selten in eine bewusst ethische Politik, eine Politik nach den Grundsätzen des Christentums umzusetzen versucht. Der Ausbruch aus den religiösen Traditionen in die Ungebundenheit moderner Machtpolitik und Staatsräson hat sich daher in Deutschland erst verhältnismäßig spät vollzogen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein beherrscht der christliche Erziehungs- und Wohlfahrtsgedanke das Feld – ein Erbe, das die lutherische Kirche dem „Teutschen Fürstenstaat“ mit auf den Weg gegeben hatte.

In Klammern bemerkt: dieses Erbe ist in den Sozialreformen des achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts noch einmal virulent geworden und hat Wirkungen weit über Deutschland hinaus gezeigt. Gegenüber den zu wirtschaftlicher Weltgeltung aufsteigenden anglikanisch und calvinistisch reformierten Völkern setzte das in seiner Mehrheit lutherische Deutschland mit der Einführung der staatlichen Sozialversicherung einen deutlichen Gegenakzent. Der moderne   Sozialstaat ist in Deutschland aus sehr spezifischen  historischen Voraussetzungen entstanden, zu denen auch kirchliche Überlieferungen gehörten. Das ist heute wenig bekannt,  es sollte aber nicht in Vergessenheit geraten.

Zurück zum Personenstand: in der Französischen Revolution trennte der Staat die bürgerlichen Standesregister von den Kirchenbüchern. Er entzog der Kirche die Beurkundung der bürgerlichen Personenstände. An die Stelle der Geistlichen traten  Personenstandsbeamte, die dem Gemeindevorstand, dem maire, zugeordnet wurden. Über die Gründung des Rheinbunds und  die Verbreitung des Code Napoléon nahm dieses neue System seinen Weg auch nach Deutschland. Freilich gingen die einzelnen Staaten bei der Umsetzung unterschiedliche Wege:  einige behielten die Kirchenbücher bei, widmeten sie nur in Standesbücher um und ernannten die Pfarrer kurzerhand in Bezug auf die Führung der Bücher zu Beamten des bürgerlichen Standes mit der Verpflichtung, entweder die Kirchenbücher nach den Vorschriften des Staates einzurichten oder gesonderte bürgerliche Standesregister zu halten.

In der Zeit des Deutschen Bundes war  es noch offen, wohin die Entwicklung gehen würde: zum angelsächsisch-skandinavischen Modell, bei dem die Pfarrer gleichberechtigt mit den weltlichen Standesbeamten die Geburts-, Todes- und  Trauregister führen, Unterschriften beglaubigen, Führungszeugnisse ausstellen und bei Renten- und Pensionsanträgen amtliche Erklärungen abgeben – oder zum französischen Modell, das schon in der Revolution die Tauf-, Ehe- und Sterberegister der Kirchengemeinden auf den kirchlichen Raum beschränkte und die Beurkundung des Personenstandes zur ausschließlich staatlichen Aufgabe erklärte.

Im Reichsgesetz vom 6. Februar 1875 entschied sich das Bismarckreich – man war mitten im „Kulturkampf“! - für das französische Modell. Die Beurkundung von Geburten, Heiraten, Sterbefällen war künftig ausschließlich Sache der vom Staat bestellten Standesbeamten.  Dabei ist es bis heute geblieben. Das geltende Personenstandsgesetz erhält im dritten Abschnitt mit der Überschrift „Geburtenbuch und Sterbebuch“  die bekannten Bestimmungen über die Anzeigepflichten und -fristen von Geburt und Tod, die anzeigepflichtigen Personen, die Prüfungspflicht des Standesbeamten und die Eintragungen in das Geburten- und Sterbebuch.

Dabei hat sich in einem Punkt eine deutliche Kontinuität zu den alten kirchli- chen Tauf- und Sterbebüchern erhalten: Die Vornamen und der Familienname des Verstorbenen, sein Beruf und Wohnort, Ort und Tag seiner Geburt sowie im Fall des Einverständnisses des Anzeigenden seine rechtliche Zugehörigkeit zu einer Kirche, Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsgemeinschaft, ferner Ort, Tag und Stunde des Todes werden ins Sterbebuch eingetragen. Schwieriger ist es bei den Neugeborenen und ihrem Eintrag im Geburtenbuch: hier zeigen die in den letzten Jahren getroffenen Neuregelungen einen deutlichen Konsistenzverlust gegenüber den alten Taufbüchern. Zeitgeschichtlich arbeitende Historiker werden es in Zukunft schwerer haben als die auf mittelalterliche und neuzeitliche Jahrhunderte spezialisierten Kollegen. Auch die heutigen Namen sind schwerer zu greifen, die Namengebung ist  zufälliger und modischer geworden als in früheren Jahrhunderten.

 

III. Reaktionen der Seelsorge

Wie hat die Seelsorge darauf reagiert, dass sie bezüglich der Feststellung von Geburt, Heirat, Tod in der Gegenwart ihre „amtlichen“ Funktionen verlor? Zog sie sich in den Schmollwinkel zurück? Oder sah sie in der Befreiung von Beurkundungspflichten auch eine pastorale Chance? Die Hilfestellung für die amtliche Statistik war ja nun gewiss nicht das Wichtigste an  der Seelsorge, die man den  Neugeborenen und den Toten angedeihen ließ. Konnten die „Rites de passage“ in einer sich säkularisierenden Gesellschaft nicht auch eine gemeindliche, eine kirchliche Bedeutung gewinnen –  als Umriss für ein Minimum an Beziehungen zwischen den Getauften und ihren Gemeinden?

Eine Fundgrube für diese bisher kaum untersuchten Fragen ist das Buch des Dresdner Pfarrers Emil Sulze „Die evangelische Gemeinde“ (Gotha 1891). Er bemühte sich Ende des 19. Jahrhunderts um eine Gemeindetheologie, die den Erfordernissen des industriellen Zeitalters gerecht werden sollte. So teilte er seine riesige Gemeinde in der Dresdner Neustadt – 60 000 Seelen! – in kleinere, überschaubare Bezirke ein, um in ihnen Seelsorge und Diakonie neu zu begründen. Sulzes Gemeindeverständnis wurde später von der liberalen Theologie aufgegriffen und zum Konzept einer Gemeinde- und Freiwilligkeitskirche ausgebaut.

Sulze zeichnet ein ziemlich schonungsloses Bild der damaligen Gewohnheiten und Gebräuche im kirchlichen Raum. Das betrifft vor allem die Taufe, die – nachdem ihr öffentlicher Rahmen verloren gegangen ist – deutliche Abbrüche und Quantitätsverluste zu verzeichnen hat. Vielfach sind die Eltern bei der Taufe ihrer Kinder gar nicht mehr zugegen. Die Kinder werden mit den Paten zur Kirche geschickt: die Eltern erwarten zu Hause Paten und Kind, um mit ihnen ein – gelegentlich ausgelassenes - Fest zu feiern. Der geistliche Charakter der Taufe, ihre Bedeutung für Eltern und Täuflinge wird kaum mehr sichtbar.  Daraus leitet Sulze zwei Folgerungen ab: Sollten weder Vater noch Mutter an der Taufe in der Kirche teilnehmen können oder wollen, dann muss sie eben zu Hause stattfinden. Gibt es aber überhaupt keine Bürgschaft  mehr für eine christliche Erziehung des Kindes, dann  muss die Kindertaufe gänzlich unterbleiben, und die Gemeinde muss  ihre Hoffnung auf eine spätere Erwachsenentaufe setzen (92 ff.).

Und das Begräbnis? Es wirkt natürlich in eine breitere Öffentlichkeit hinein als die Taufe. Dementsprechend soll sich der Pfarrer verhalten. „Ist in seinem Bezirke ein Sterbefall eingetreten, so besucht natürlich der Pastor die Leidtragenden und spendet ihnen den Trost, den sie bedürfen. Er geht mit ihnen zum Grabe und erinnert sie daran, dass der Tod nur die Entfaltung eines reicheren Lebens ist...Ist der Entschlafene für weitere Kreise von großer Bedeutung gewesen und umgeben vielleicht viele Berufsgenossen und Freunde sein Grab, so mag der Pastor sie daran erinnern, was der nun Verklärte ihnen war, und wie er fortwirkt in seinem Kreise“ (103 ff.).

Zur Zeit Sulzes waren die alten, kleinen bei den Kirchen gelegenen Kirchhöfe längst durch die großen parkartigen Friedhöfe des 19. Jahrhunderts abgelöst worden. Dort waren viele Arten von Beerdigungen möglich: von kleinen, stillen, fast anonymen bis zu großen, festlichen, pomphaften,  die oft wahre gesellschaftliche Ereignisse waren. Oft hatten Kirchen und Pfarrer Mühe,  neben der Familie, der Verwandtschaft, den Honoratioren, der politischen Gemeinde überhaupt noch angemessen wahrgenommen zu werden. Gegen Ende des Jahrhunderts nahm auch die Feuerbestattung zu – und der Seelsorger und Prediger Sulze zerbricht sich in seinem Buch den Kopf darüber, wo in diesem Fall die Begräbnisrede zu halten sei, im Krematorium oder vielleicht doch besser zu Hause.

Seitdem die alte Verbindung des kirchlichen mit dem staatlichen  Leben sich gelockert hatte, standen die Gemeinden – evangelische wie katholische – vor der Aufgabe, im städtischen Bereich aus eigenen Kräften ein selbständiges Leben zu entwickeln. Dazu bedurfte es eines neuen Typs von Seelsorger. In den rasch anwachsenden Großstädten sammelten sich Gemeinden oft genug um einen Prediger. Nach Schleiermacher ist der Prediger „Repräsentant seiner Gemeinde“; er verleiht dem frommen Bewusstsein der Gemeinde Ausdruck. Er ist aber auch „Organ seiner Kirche“, indem er das „gemeinsame religiöse Gefühl der Kirchengemeinschaft“ durch seine Predigten „aufstellt“.

Die Seelsorgsgeschichte des 19. Jahrhunderts wird vor allem im protestantischen Deutschland ganz von dieser Spannung beherrscht. Je größer und unübersichtlicher die Gemeinden werden, vor allem in den urbanisierten Zonen, desto mehr wächst das Bedürfnis nach persönlicher Ansprache, seelsorgerlicher Nähe, mit anderen Worten: nach Gemeinschaft. Gemeinschaftsbildung auf der unteren Ebene, oft um eine starke Pfarrer- und Predigerpersönlichkeit herum, kann jedoch auch zum Auszug aus der überlieferten Territorialgemeinde, ja aus der Landeskirche führen. Dann tritt die Freiwilligkeitskirche auf den Plan - organisiert nach dem Muster von Vereinen und Verbänden. Oft tritt sie an die Stelle der „objektiven“, institutionellen Strukturen von Gemeinde und Kirche.

Sulzes Modell ist in seiner Zeit auch auf Widerstand gestoßen. Die Gegner warnten vor einer Sonderexistenz der christlichen Gemeinde, die aus dem Alltag, aus den beruflichen und sozialen Verpflichtungen ihrer Mitglieder, aus den konkreten Örtlichkeiten und Überlieferungen herausfiel und mehr und mehr dem Prinzip spontaner Zusammenschlüsse und Gemeinschaftsbildungen folgte. Anderseits: konnte man angesichts eines bei vielen Menschen auf „Passageriten“ reduzierten Christentums anders reagieren als durch eine seelsorgerische „Flucht nach vorn“: aus den Kasualien in den schöpferischen Augenblick, aus dem Alltäglichen in das Besondere – in der Hoffnung, dass die durch die Erfahrungen von Tod und Leben bewegten Gemüter vielleicht bereiter seien für den Kairos des Glaubens als die normalen Kirchgänger am Sonntag?

 

IV. „Keine Stadt ohne Friedhof!“

Kommen wir noch einmal auf die Friedhöfe zurück. Sie hatten sich seit ihrer Zerstörung intra muros im Freien weiterentwickelt. Sie waren zu Gärten und Parks geworden, zu Kunstwerken der Landschaftsarchitektur. Eingebettet in die Natur, waren sie weitgehend unabhängig vom Schmutz und Elend der Städte. Oft wurden sie geradezu zum Gegenbild der Stadt, zu einem Freiraum, einem Asyl  – mit Zypressen und Trauerweiden, murmelnden Bächen, zitterndem Blattwerk,  Blumenrabatten und künstlerisch gestalteten Grabsteinen, mit Seen, Bänken,  Lauben und Denkmälern.

Sagte man im 18. Jahrhundert in Frankreich: „Keine Stadt mit Friedhöfen!“, drängten Hygiene und Platzbedürfnis die Friedhöfe bald aus den Zentren hinaus ins Grüne, so kehrte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Parole um: „Keine Stadt ohne Friedhof!“ hieß es jetzt. Keine Stadt ohne einen Ort der Ruhe, der Einkehr, der Erholung und Besinnung. Neue Begräbniszeremonien entwickelten sich, neue Formen gesellschaftlicher Schaustellung in Denkmälern, Steingräbern und Mausoleen  entstanden – vor allem aber entwickelte sich ein neues Ritual des bürgerlichen Zeitalters, der Friedhofbesuch. Besuch bei den Toten – das ist etwas Neues. Während man früher die Toten ins Gebet einschloss und sie den Heiligen empfahl, in deren Nähe sie ruhten, stattet man ihnen jetzt einen Besuch ab.

Philippe Ariès unterscheidet den modernen Totenkult, der unsere heutige Friedhofs- und Grabkultur geprägt hat, sowohl vom antiken Glauben an die Gegenwart der Toten wie von den volkstümlichen Traditionen des Mittelalters. Er schreibt (aaO 149): „Der moderne Totenkult ist der Kult einer dem Körper, dem körperlichen Erscheinungsbild verpflichteten Erinnerung...Seine Schlichtheit – ohne Dogma, ohne Offenbarung, ohne Übernatürliches und nahezu ohne Mysterium – gemahnt an den chinesischen Ahnenkult. Von den christlichen Kirchen ebenso assimiliert wie von atheistisch-materialistischen Strömungen, ist der Totenkult heute zur einzigen religiösen Äußerung geworden, die Gläubigen und Ungläubigen aller Konfessionen gemeinsam ist. Er ist in der Welt der Aufklärung entstanden, hat sich in der jeder religiösen Ausdruckshaltung wenig entgegenkommenden Welt industrieller Techniken und Fertigungsweisen weiterentwickelt und ist dennoch so bruchlos eingebürgert worden, dass seine rezenten Ursprünge in Vergessenheit geraten sind, und das zweifellos deshalb, weil er der Situation des modernen Menschen – und namentlich dem von der Familie, Nation und Gesellschaft eingenommenen Teilbereich seiner Sensibilität – unmittelbar entsprach.“

                            

V. Die Stadt – ein „Markt der Religionen“?

Die ältere deutsche Stadt hatte eine relativ einfache religiöse Binnenstruktur. Es gibt innerhalb der Stadtmauern einen Glauben, eine Kirche, eine Taufe – mögen auch die Beziehungen zwischen Geistlichkeit und Klöstern, zwischen Klerikern und Bürgern innerhalb der Stadtmauern und zwischen den einzelnen Christen  so kompliziert und kontrovers sein wie überall. Auch die Reformation hat an dieser Struktur wenig geändert; protestantische Städte blieben, sieht man von Ausnahmen ab,  gegenüber Menschen anderer Konfessionen abweisend - so wie die katholischen Städte auch. Sie blieben religiös „einfarbig“ – und wahrten damit ihre alte Einheit und Geschlossenheit. In Dresden erinnert bis heute das „Italienische Dörfchen“ daran, wie schwierig es im 18. Jahrhundert war,  in der protestantischen Stadt eine katholische Hofkirche zu bauen – das ging nur mit Gastarbeitern aus dem Süden, die in einer sorgsam abgegrenzten Exklave lebten.

Heute sind diese sichtbaren und unsichtbaren Mauern alle gefallen. Die christlichen Kirchen stehen nicht mehr wie früher prototypisch, ja fast ausschließlich für „die Religion“, sie haben ihren dominierenden öffentlichem Einfluss verloren. Und sie haben Konkurrenz bekommen. Neben ihnen wächst in raschem Tempo die „Konfession der Konfessionslosen“, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie in Gesamtdeutschland Protestanten und Katholiken an Zahl überflügeln wird (in den Neuen Ländern ist das längst der Fall). Neben die christlichen Konfessionen ist ein Spektrum alter und neuer Religionen getreten, das vom Judentum bis zum Islam, von den „klassischen“ östlichen Religionen bis zu Neuschöpfungen in einer sich verbreiternden religiösen „Szene“ reicht - von Splittergruppen am Rand überlieferter Bekenntnisse bis zu den „virtuellen Kirchen“ im Internet.

Entsteht hier ein neuer „Markt der Religionen“, der die alte bilaterale Staat-Kirchen-Landschaft ablöst? So sehen es heute viele. Ich weiß freilich nicht, ob man hier von einem Markt reden kann – ein Markt setzt ja Spielregeln voraus, und die gegenwärtige religiöse Signatur trägt eher das Kennzeichen einer gewissen Regellosigkeit. Aber zweifellos sind marktförmige Elemente im religiösen Spektrum im Vordringen: selektive Formen der Aneignung des Glaubens breiten sich aus, und manchmal zeigt sich auch bei den Angehörigen christlicher Kirchen ein regelrechtes Bastel- und Patchwork-Christentum. Bei nicht wenigen Christen ist das Abwählen und Auswählen an die Stelle einfacher Übernahme und Weitergabe der Glaubenstradition getreten.

Jeder Amerikabesucher kennt die große, oft kaum mehr überschaubare Zahl der „Churches“ in den Telefonbüchern, den Zeitungsanzeigen, der Rundfunk- und Fernsehwerbung. Man hat oft Mühe, die großen Kirchen unter den vielen kleinen überhaupt noch zu finden. Europäer haben über die flugsandartige Verteilung des Religiösen und den Mangel an kirchlich zentrierenden Strukturen in den Vereinigten Staaten immer wieder die Nase gerümpft – die Reihe der Kritiker reicht von Tocqueville und Max Weber bis zu Tillich und Bonhoeffer. Doch inzwischen dürfte den Europäern der Hochmut vergangen sein, denn britische, niederländische, schweizerische Telefonbücher sehen mittlerweile, was die Kirchen angeht, kaum anders aus als amerikanische.

In einem Arbeitstext „Wahrnehmungen der christlichen Landschaft in Freiburg und Anregungen zum ökumenischen Gespräch“ (1999) werden allein in dieser mittleren Großstadt mit 170 000 Einwohnern 21 Freikirchen, 16 Gruppen der Pfingstbewegung, 8 Endzeitgemeinden und 54 weitere Gruppen, darunter auch nebenbiblische (von den Mormonen bis zu Unity, Gralsbewegung, Fiat Lux, Universelles Leben, Theosophie und Anthroposophie) aufgeführt. Aber auch bei Katholiken, Protestanten, Orthodoxen gibt es viele Gruppen und Untergruppen – von einem charismatischen Erfahrungschristentum bis zu den fest geschlossenen Reihen der katholischen Traditionalisten. Sogar Wanderbischöfe und Presbyteri vagantes treten auf. Und Freiburg ist gewiss nur ein Beispiel für viele. Wer die Augen aufmacht, der entdeckt heute neben den „offiziellen“ christlichen Kirchen viele Formen von Eigenwuchs – mit fließenden Übergängen von umfassend christlichen zu teilchristlichen, von hierarchielosen zu straff hierarchisierten Strukturen.

Es ist kein unabänderliches Schicksal, dass die „alten Kirchen“ schrumpfen, während die neuen, meist locker strukturierten Religionsgemeinschaften Auftrieb haben und an Mitgliedern wie an Einfluss zunehmen. Ohnehin tanzt West- und Nordeuropa, wie oft bemerkt, bezüglich der globalen Entwicklung aus der Reihe; denn weltweit ist an die Stelle der Säkularisierung längst das getreten, was in heute vielgelesenen Büchern als „Rückkehr der Religionen“, „Wiederkunft des Heiligen“, „Wiederkehr der Götter“ bezeichnet wird.  In der heutigen Religionssoziologie ist denn auch kaum mehr etwas vom „Absterben der Religion“ zu hören, vom Rückzug religiöser Traditionen ins Private, Subjektive, Subkulturelle. Man registriert eher die gegenläufigen Trends, nimmt zur Kenntnis, wie Religion sich entprivatisiert und neuerlich öffentlich und politisch wird – nicht selten mit  Begleiterscheinungen der Ungeduld, Militanz und Intoleranz.  Für unser Thema „Anfang und Ende in der Stadt“ ist das alles von großer Bedeutung. Aber wer würde sich getrauen, eine Prognose darüber zu erstellen, wohin sich die Dinge entwickeln und wo wir in zehn, in zwanzig Jahren stehen werden?

Dass sich die Religions-Nachbarn vervielfacht haben, dass sie unterschiedlicher und unberechenbarer werden, dass eine Fülle neuer Beziehungen entsteht, aber auch Auseinandersetzungen sich abzeichnen – das lässt die lange Zeit so an- schauliche und übersichtliche deutsche Religions-Kartographie in Zukunft kom- plexer und schwieriger werden. Vieles ändert sich, vieles muss neu bedacht werden: von der Gemeindestruktur bis zu den Gotteshäusern, vom „Eintritt“ in eine Religion bis zu den diversen Regeln, die Tod und Begräbnis betreffen  (in jüngster Zeit ein wachsendes Konfliktfeld!). Nicht zu reden vom Dienst- und Arbeitsrecht und seiner Anpassung an die neue Religionsvielfalt, von der Mili-tär-, Polizei- und Anstaltsseelsorge – und nicht zu vergessen die mannigfache und durchaus unterschiedlich strukturierte Tätigkeit der Religionsgemeinschaf- ten im Bildungswesen, im Gesundheits- und Sozialbereich.               

 

VI. Die Kirchen und die Künste

Religion und Kultur in der Stadt – erst am Schluss komme ich zum Ersten, Nächstliegenden, das man in Dresden gar nicht übersehen kann: ich meine die  Nachbarschaft von Kirchen und  Künsten in der Stadt.

Keine Sorge, ich will hier nicht die tausendste Hymne auf Elbflorenz anstimmen. Da wären andere gewiss berufener als ich. Aber ich gestehe gern, dass ich Dresden liebe – das alte, das ich aus Fritz Löfflers Buch kenne, und das neue, das nach dem Krieg entstanden ist, großflächig ausgeweitet, planiert und „zerbaut“ und immer noch nach seiner Form suchend. Ohnehin hat mich als Süddeutschen und Wahlbayern aus dem „anderen Freistaat“ Sachsens Glanz immer mehr beeindruckt als Preußens Gloria. Und was wäre Sachsen ohne die Nüchternheit des bürgerlichen Leipzig auf der einen,  die leichtsinnige Anmut der Residenzstadt Dresden  auf der anderen Seite?

Doch bei aller Liebe und Bewunderung für die barocke Festarchitektur des Zwingers, für die den Elbraum beherrschende Hofkirche, für die glanzvoll wiedererstandene Frauenkirche, für die Museen der Stadt, die Theater, die allgegenwärtige Musik – durch die Dresdner Kunst geht auch ein Ton der Trauer, der Melancholie, der  Entsagung. „Die wahre Dresdenliebe kommt aus dem Dresdenverlust“, sagt Thomas Rosenlöcher.

Das gilt nicht erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Schon Friedrich II. ließ die Stadt beschießen, als Sachsen wieder einmal politisch „auf der falschen Seite stand“. Als der junge Goethe im März 1768 seinen zwölftägigen Ausflug nach Dresden unternahm, waren die Wunden noch nicht verheilt. „Die köstlichen...Erfahrungen“, so heißt es in „Dichtung und Wahrheit“ wurden jedoch durch einen der traurigsten Anblicke unterbrochen und gedämpft, durch den zerstörten und verödeten Zustand so mancher Straße Dresdens, durch die ich meinen Weg nahm. Die Mohren (sc. Moritz-)straße in Schutt, sowie die Kreuzkirche mit ihren geborstenen Türmen drückten sich mir tief ein und stehen noch wie ein dunkler Fleck in meiner Einbildungskraft. Von der Kuppel der Frauenkirche sah ich diese leidigen Trümmer zwischen die schöne städtische Ordnung hineingesät; da rühmte mir der Küster die Kunst des Baumeisters, welcher Kirche und Kuppel auf einen so unerwünschten Fall schon eingerichtet und bombenfest erbaut hatte. Der gute Sakristan deutete mir alsdann auch Ruinen nach allen Seiten und sagte bedenklich lakonisch: Das hat der Feind getan!“

Die Kunst und die „leidigen Trümmer“, die geborstenen Türme einer Kirche – hat das mit unserem Thema zu tun, mit Anfang und Ende in der Stadt, mit Geburt und Tod, Taufe und Begräbnis? Ich meine schon. In den Künsten, die sich in der christlichen Zivilisation entwickelt haben, ging es ja nie – oder doch nie allein – um rhetorische Künste und ästhetische Raffinements. Von vornherein richtete sich die christliche Botschaft nicht an ein ausgesuchtes, für künstlerische Äußerungen empfängliches Publikum. Vielmehr hatte sie das Volk im Auge, Menschen aller Schichten und unterschiedlicher Herkunft. Das Kunstloseste, Verständlichste, Eingängigste war gut genug für die Verkündigung. Die Parole hieß: alle erreichen, allen alles werden, das Neue von den Dächern rufen. Niemand sollte ausgeschlossen werden vom Heil.

In den Augen vieler Menschen der Antike war das Christentum eine vulgäre und unästhetische Religion. Führte es doch einen gekreuzigten Gott im Schilde – für „normale Menschen“ jener Zeit eine schlichte Absurdität. Eine Extremsituation wurde vor Augen geführt – der Mensch, zerrissen zwischen Himmel und Erde, der leidende und sterbende Gottesknecht - der Menschensohn, der die Leiden der Menschen auf sich nimmt und in dem nach dem Prophetenwort „nicht Gestalt noch Schönheit“ ist.

Eine schwierige also Lage für die Kunst im Christentum: sie soll einerseits den fleischgewordenen Logos sichtbar machen, soll das zur Anschauung bringen, „was wir gesehen, gehört und mit Händen betastet haben vom Wort des Lebens (1 Joh 1,1). Anderseits sprengt solches Sichtbarmachen, indem es das Leid aller Menschen, die ganze lange übersehene Welt der Armen, Behinderten, Kranken, Entrechteten einbezieht, die Gesetze überlieferter „maßvoller“ Schönheit. Eine Ästhetik rückhaltloser, unverschleierter Wahrheit wird sichtbar. Kunst im Christentum schließt das Nicht-Schöne, schließt Abgründe und Hässlichkeiten ein. Christliche Ästhetik ist stets auch eine Ästhetik der Entäußerung. Welche Herausforderung für die Moderne, für die zeitgenössischen „nicht mehr schönen“ Künste! Welche Chance aber auch für Menschen, Gläubige wie Ungläubige, die in der Kunst nicht mehr ein fernes Ideal verehren, sondern etwas Gegenwärtiges,  das zu allen spricht - und sei es in der Gestalt des Unvollkommenen, Fragmenthaften, Peinvollen.

Solchen Gedanken hänge ich nach, wenn ich in der Sempergalerie die Sixtinische Madonna sehe - und den entsetzten Blick des Jesusknaben auf die Welt, den Arthur Schopenhauer in einem großartigen Gedicht beschworen hat. „Sie trägt zur Welt ihn: und er schaut entsetzt / In ihrer Greu’l chaotische Verwirrung, / In ihres Tobens wilde Raserei,/ In ihres Treibens nie geheilte Torheit, / In ihrer Qualen nie gestillten Schmerz...“ Ähnliche Schauer kann man in vielen manieristischen Übersteigerungen der Barockbildhauer nachempfinden, die ja keineswegs nur das Himmlische, Überirdische in Szene setzen, sondern auch die Dinge dieser Welt enthüllen und karikieren. Und in die allerjüngste Gegenwart versetzt mich der weiße Gedenkaltar von Friedrich Press in der Hofkirche: Gedächtnis für die Verbrannten und Erstickten, die unkenntlich gewordenen, kaum mehr menschenähnlichen Opfer der Bombennacht - und zugleich Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs, an die  vielen Kriege, die seither gefolgt sind, an die uns täglich umgebenden Katastrophen.

Religion und Kultur – das war schon immer ein spannungsreiches Verhältnis. Es ist bis heute spannungsreich geblieben. Die Stadt ist eine Naturbühne für diesen  Dialog. Man gehe durch Dresden und mache die Augen auf, man sehe und höre.

 

Prof. Dr.Dr.h.c. Hans Maier war Direktor des Geschwister -  Scholl – Instituts für Politische Wissenschaften an der Universität München (Deutschland), bevor er für 16 Jahre Kultusminister Bayern geworden ist. Anschließend übernahm er den Lehrstuhl Guardini ( für Religion und Christliche Weltanschauung ) bis zu seiner  Emeritierung.

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