Lebensqualität
und ethische Kultur
Bioethik
als Einheit von Fortschritt und Akzeptanz moralischer Grenzen
Prof.
Dr. Josef Römelt
Die Ethik hat als
im heutigen wissenschaftlichen Kontext endlich wieder zu Rate gezogene
wissenschaftliche Reflexion einen wichtigen Beitrag zu leisten, damit
sich medizinische Forschungsprojekte für den Menschen als ganze tatsächlich
überhaupt in eine verantwortbare und humane Richtung bewegen. Die
wissenschaftliche Vernunft ist an einem Punkt sozusagen zweiter Aufklärung
angekommenen, an dem deutlich wird, dass es nicht nur um sachliche
Korrektheit wissenschaftlicher Forschung, sondern immer auch um einen
Bezug zu kulturellen Werten geht. Seien es die ökologischen
Fragestellungen heutiger Gesellschaft, nimmt man die komplexen Fragen
der politischen Ethik oder bedenkt man eben das medizinisch-technische Können
des gegenwärtigen Gesundheitssektors, immer geht es darum,
sachlich-praktische Einsichten und Anwendungen auf die Bedürfnisse des
Menschen und umfassendere kulturelle Interessen der Gesellschaft zu
beziehen. Dabei geht es nicht um eine Konkurrenz zwischen
wissenschaftlicher Freiheit und moralischer Bindung, sondern beide Dimensionen zusammen bilden
den eigentlichen Motor kultureller Innovation und zivilisatorischer
Entwicklung. Wenn es stimmt, dass sich innerhalb der modernen, komplexen
Gesellschaft die Nachfrage nach Moral drastisch erhöht hat, so sehr,
dass gelegentlich der Eindruck entsteht, die gegenwärtige Gesellschaft
habe gegenüber früheren Zeiten ein zu wenig an moralischer Haltung zu
bieten, wenn dieser Bedarf an Ethik aber mit den größeren Risiken des
gesteigerten menschlichen Könnens zusammenhängt, dann ist es wichtig,
den Beitrag der Ethik als wissenschaftlicher Reflexion für eine humane
Gestaltung moderner wissenschaftlicher Forschung tiefer zu reflektieren l.
Die folgenden Gedanken versuchen anhand zweier moderner Konflikte
deutlich zu machen, wie sehr das Ineinander der Dimensionen
wissenschaftlich-technischer Vernunft und moralischer
Orientierungs-leistung, ja kulturell-existentieller Bezogenheit gerade
in ihrer ergänzenden und einander stützenden Qualität eine rational
redliche und ethisch verantwortbare Entwicklung ermöglichen
kann und dazu verhilft, Forschung zu humanisieren. Nicht eine
falsche Moralisierung, vor der sich jeder Wissenschaftler fürchtet, der
die Freiheit der Forschung für einen wichtigen Bestandteil gelingender
Entwicklung hält, sondern ethisches Nachdenken ist hier gemeint. in dem
Impulse kultureller Art für das Gelingen wissenschaftlicher und
technischer Entwicklung innerhalb moderner komplexer Gesellschaft
aufbewahrt sind.
Zwei Prinzipien dieses Dialogs zwischen instrumenteller und
moralischer Vernunft sollen dabei beispielhaft zur Sprache kommen das
Prinzip der Überschaubarkeit der Entwicklung und das der Reflexion der
Eingriffstiefe von Forschungen in die menschliche Wirklichkeit. Beide
Prinzipien sollen anhand konkreter Beispiele dargestellt werden Das
erste wird anschaulich im Blick auf die moderne genetische Forschung.
Das zweite lässt sich am deutlichsten an den Fragen der heute heftig
diskutierten Stammzellforschung explizieren.
1.
Gentherapie und Überschaubarkeit der Entwicklung
Die Frage der Überschaubarkeit
der Entwicklung moderner wissenschaftlicher Forschung und Technik spielt
eine wichtige Rolle bei der Frage der Verantwortbarkeit von Genforschung
am Menschen.
a) Zur Entwicklung der
Humangenetik
Genetische Wissenschaft macht zur
Zeit enorme Fortschritte gerade auch im Bereich der Erforschung des
menschlichen Genoms. Sicherlich ist es wichtig, hier zu große
Erwartungen zu dämpfen. Vieles, was im Bereich der Humangenetik möglich
ist, bezieht sich vorerst auf diagnostische Einsichten und Kenntnisse.
Die Entschlüsselung des Humangenoms meint lediglich eine mehr oder
weniger formale Einsicht in die Basensequenzen, die das menschliche
Genom aufbauen. Die Bedeutung dieser Codierung ist für viele Abschnitte
der menschlichen DNA noch nicht bekannt.
Forschungsprojekte haben aber dennoch unterschiedliche
Forschungs-ziele auf dem Hintergrund des genetischen Wissens über den
Aufbau der menschlichen DNA formuliert. So wird unterschieden zwischen
der Produktion lebenswichtiger Substanzen mit Hilfe der Übertragung
menschlicher Gene in Mikroorganismen und Säugetierzellen (z B
Produktion von Insulin, Interferonen usw.), sodann somatischen
Eingriffen in das menschliche Genom (hier geht es um Veränderungen
genetischer Strukturen in einzelnen ausdifferenzierten Körperzellen des
Menschen) und schließlich den Interventionen, die vom Träger vererbt
werden können (gemeint ist eine Veränderung des Genoms, die über die
Keimbahn an spätere Generationen weitergegeben wird)2 .
Bisher haben die ethischen Reflexionen und juristischen Deklarationen
eine scharfe Grenze gezogen zwischen Versuchen, die mit der Herstellung
transgener Organismen mit
Hilfe menschlicher Erbinformationen und mit somatischen Therapien auf
der einen Seite, mit Eingriffen in die Keimbahn auf der anderen
zusammenhängen. Die Keimbahntherapie zum Beispiel ist durch die
Bioethik-Konvention der Europäischen Union und durch das deutsche
Embryonenschutzgesetz verboten 3 . Im Vordergrund stehen hier
Bedenken im Blick auf die Kontrollierbarkeit solcher Eingriffe und die
Gefahr der Zeugung von kranken Nachkommen. Menschliche Lebewesen würden
auf diese Weise instrumentalisiert und nach heutigem Stand belastenden
Experimenten ausgesetzt, ohne dass sie selbst
in irgendeinem Sinne eine Einwilligung formulieren könnten oder
dass sie selbst sogar einen Nutzen davon tragen könnten 4 .
Sowohl das Nicht-Schadens-Prinzip als auch das Prinzip der Einwilligung
würden hier fundamental verletzt.
b) Zwischen Förderung und Maßhaltung
Dennoch erscheint es nicht
sinnvoll, humangenetische Forschungen gleichsam global zu verurteilen,
und zu verbieten oder auch nur das Wissen zu verdrängen, das mit Hilfe
genetischer Einsichten in die Grundbausteine des Lebens zur Verfügung
steht5 . Das Problem aber ist, wo die Grenzen zwischen Nutzen
und Risiken dieser modernen Technik liegen.
Aus dem Bereich der genetischen Beratung und der pränatalen
Diagnostik, ja der gesamten prädiktiven Medizin ist die Schwierigkeit
wohl bekannt, dass viele Daten, die die genetische Diagnostik
bereitzustellen imstande ist, vom Menschen nur teilweise sinnvoll
verarbeitet werden können. Genetische Beratung, die zwischen sachlicher
Aufklärung über Gesundheits- und Vererbungsrisiken, statistischen
Ver-objektivierungen und Unterstützung bei der existentiellen, in
keiner ob-jektiven Rationalität ganz aufgehobenen einmaligen
Lebensplanung changiert, zeugt von dieser Schwierigkeit. Wahrung von
Selbst-bestimmtheit angesichts schwer objektivierbarer, aber realer
Risiken, Schutz des einzelnen vor statistischen und ökonomischen
Interessen gesellschaftlicher Institutionen (Krankenversicherungen
etc.), Abwehr selektionistischer und eugenisch-kollektivistischer
Tendenzen, ohne epidemiologische und hygienische Gesichtspunkte zu
vernachlässigen - das sind nur einige der Probleme, die sich in diesem
Zusammenhang stellen.
Moderne Kultur reagiert auf diese Probleme mit einer Förderung
wissenschaftlicher Forschung bei gleichzeitiger Einbindung ihrer
Ergebnisse in die demokratische, auf die freie Selbstbestimmung des
einzelnen Bürgers abgestellte Kultur. Das ist schon ein Ausdruck einer
ganz konkreten Bindung instrumenteller Vernunft an die umfassendere
moralische Kompetenz freier und dem konkreten Menschen dienender
Gesellschaft. Genetische Beratung ist in diesem Sinne nicht staatliche
Gesundheitskontrolle, sonder individuell-existentielle Beratung – ähnlich
anderer Konfliktberatungen, welche das soziale Netz dem Bürger zur Verfügung
6 .
Diese Rückbindung an den einzelnen. individuellen und konkreten
Menschen erscheint aber aus dem Blickwinkel der theologischen Ethik ein
ganz wichtiger Teil des fruchtbaren Dialogs zwischen wissenschaftlicher
Vernunft und moralischer Einbindung. Deutlicher wird das noch an der
Frage, welches Ziel sich genetische Forschung setzt: das der -
methodisch vielleicht notwendig anzunehmenden - prinzipiell unendlichen
Weltverbesserung oder das einer bescheidenen, je konkreten
Naturverbesserung (dort, wo durch die Laune der Natur menschliches Leben
bedrängt ist). Es geht um die Frage lokalisierter, konkreter
Verminderung von Leid durch genetische Veränderungen im Menschen und
nicht utopischer Zucht des Übermenschen, der keine biologischen Mängel
mehr kennt 7 .
Die Unterscheidung dieser beiden Sichtweisen ist wichtig. Auch
wenn man natürlich einwenden kann, dass ja auch eine schrittweise
Verbesserung der Natur zu Utopien der Schöpfung eines neuen Menschen führen
könnte, bleibt doch bei der bescheidenen Sicht konkreter, klinisch
bezogener Bewältigung von Leid die Forschung überschaubar und nicht
ideologisch.
Die theologische Ethik besteht darauf, die faktische Endlichkeit
menschlicher Existenz ernst zu nehmen. Über die Erinnerung an das
letztlich unüberwindbare Faktum der Herkünftigkeit allen Daseins
hinaus hält die theologische Reflexion das Wissen um die Verwiesenheit
auf eine schließlich transzendente Erfüllung menschlicher Sehnsucht
nach Daseinserhaltung und Leben fest: Angesichts der Realität von
Tod und Sterben müssen die Bedingungen des vernünftigen Diskurses über
die Reichweite menschlicher Handlungsfähigkeit um der humanen Bewältigung
ethischer Konflikte technischer Kultur willen realistisch strukturiert
werden, das heißt, an die rationale Kohärenz der Anerkenntnis von
Grenzen der Manipulation gebunden werden.
Die Theologie spricht vom Wissen der Begrenztheit aller
menschlichen Manipulations-möglichkeiten 8 .
Kulturell muss dieses Wissen in eine Balance zwischen Förderung
und Maßhaltung umgesetzt werden - besonders dort, wo die manipulierende
Veränderung durch den Menschen schließlich zu den Risiken führt, die
im Verbot der Keimbahntherapie angesprochen sind. Das Kriterium der klar
definierten Experimente zur Überwindung einzelner schwerwiegender,
nicht anders zu bewältigender Krankheiten und in klarer Möglichkeit
zur Kontrolle der Effekte einer Veränderung des Genoms müssen hier die
Forschung begrenzen. Wie das Argument der Nachhaltigkeit im Rahmen der
Ökologie erscheint im Blick auf das menschliche Genom die
Eingriffstiefe von Bedeutung. Um nicht die Schwelle von der Verminderung
von Leiden zur Verbesserung des Menschen gleichsam in einer Art
Spekulation der Weltverbesserung zu verwischen, bedarf es der exakten
Beschreibung des zu bewältigenden natürlichen Defizits und des
Leidens, das überwunden werden soll, sowie einer konkreten
Technikfolgenabschätzung - ähnlich wie sie im Rahmen etwa ökologisch
relevanter Eingriffe von Biotechnik heute schon üblich ist. Die enge
Bindung der Forschung an klinische Probleme, die Finanzierung im Blick
auf konkrete Heilungschancen erscheint von vitalem kulturellem
Interesse.
Hier wird die von der
traditionellen Ethik immer radikal betonte Unterscheidung zwischen
Handlungsintention und Handlungseffekt wichtig. Spekulationen, wie sie
von wichtigen Forschem im Bereich der Genetik formuliert wurden 9 ,
zeigen eine Verzerrung und ethisch äußerst
problematische Motivation für humangenetische Forschung am
Menschen. Die Erzeugung gleichsam übermenschlicher Qualitäten kann
nicht das Ziel solcher medizinischer Forschung sein. Die Forderung, dass
Forschungsinstitutionen und Einrichtungen der Biotechnologie sowie ihrer
wirtschaftlichen Unternehmen ein ähnliches Standesethos entwickeln müssen,
wie sie die Ärzteschaft für ihre Eingriffe in menschliches Leben
formuliert hat, erscheint auf diesem Hintergrund logisch. Es bräuchte
entsprechende Institutionen auf Landes- und Bundesebene, die ein solches
Ethos formulieren und denen deren Kontrolle anvertraut ist. Solche
Organe können durchaus analog zur Bundesärztekammer und den Landesärztekammern
gedacht werden.
2. Ethik als Vorraussetzung zur
Strukturierung von Forschungsvorhaben
Es ist keine ungerechtfertigte
Zumutung, wenn aus dem Anliegen solcher kulturellen Einbindung heraus
die Suchbewegung medizinischer Wissen-schaft auch an konkreten ethischen
Erfordernissen entlang zu strukturieren versucht wird. Ethische
Anliegen, die das kulturelle Leben in großen Bereichen des komplexen
Lebens menschlich machen (wie etwa das Tötungsverbot), spielen eine
Rolle, um die prinzipiell offene, chancenreiche, aber eben auch
risikoreiche Forschung zu lenken und sinnvoll fortzutreiben, damit tatsächlich
humanisierende Effekte erzielt werden. Die sachlichen Ziele spielen
dabei eine wichtige Rolle. Ihre Effekte, die die Qualität menschlichen
Lebens selbst häufig unmittelbar beeinflussen und verbessern, sind
selbst von ethischer Relevanz. Aber sie dürfen und müssen auf Ziele
bezogen bleiben, die die umfassenderen existentiellen und kulturellen
Bedürfnisse menschlicher Kultur repräsentieren und die u.a. auch in
allgemeineren ethischen Standards gesellschaftlichen Lebens aufbewahrt
sind. Auch hier sei ein ganz aktuelles Thema zur Illustration gewählt:
die Stammzelltherapien.
a) Zellersatztherapien als
Hoffnungsträger
An den Einsatz menschlicher
Stammzellen werden heute innerhalb der Medizin große Erwartungen geknüpft.
Und hier steckt der sachliche, ethisch relevante Aspekt des Ziels
solcher wissenschaftlicher Forschung am und für den Menschen. Besonders
bei komplizierten degenerativen Krankheiten, deren Ursachen nur zum Teil
bekannt sind und die deshalb zur Zeit wenig Chancen auf eine hilfreiche
Behandlung haben - wie etwa die Parkinsonkrankheit oder Osteoporose - ,
rechnet man sich durch die Verwendung von Stammzellen Interventionsmöglichkeiten
für entsprechende Patienten aus. Ähnlich heute schon praktizierter
Zellersatztherapien scheint man an die Behandlungen mit Stammzellen die
Hoffnung zu knüpfen, dass diese Zellen sich an verschiedenen Stellen
eines kranken Organismus einfügen und entweder das Wachstum von Gewebe
oder die Produktion lebenswichtiger Substanzen wieder an-
regen10 . Solche Therapien eröffnen für die moderne Medizin
eine realistische Perspektive neuer, weitreichender Heilungschancen, die
zur Zeit wahrscheinlich
aussichtsreicher sind als gentherapeutische Versuche am Menschen.
Das Problem ist bekannt, dass für die Entwicklung solcher
Therapien offenbar auch solche Stammzellkulturen
benötigt werden, die aus Embryonen gewonnen werden. Dabei wird - als letzte Stufe der von der Deutschen
Forschungsgesel1schaft angeregten Entwicklung 11 -
an den Verbrauch von Embryonen gedacht, die als überzählige Embryonen
(etwa durch die Erkrankung einer Frau während einer Sterilitätstherapie
[In-vitro-Fertilisation]) auch in Deutschland vorhanden sind und gewöhnlicher
Weise einfach dem Absterben preisgegeben werden.
b) Das Tötungsverbot und die
Idee eines graduierten Lebensschutzes
Das Tötungsverbot ist ein
wichtiger Bestandteil einer modernen, im friedlichen Interessenausgleich
und rechtsstaatlicher Sicherheit gestalteten Gesellschaft. Ein Verbrauch
von Embryonen - auch in zugegebener sehr
frühen Entwicklungsstadien - ist zunächst eine
Normenmanipulation, die den Raum des Tötungsverbotes berührt. Es geht,
so ist der Vorgang vorsichtig zu beschreiben, um den Verbrauch eindeutig
menschlich spezifizierten Lebens, von eindeutig menschlichen Lebewesen
(das ist das Ergebnis gerade genetischer Einsichten), für Zwecke, die
mit deren eigenem, individuellem Leben nichts zu tun haben. Eine
Instrumentalisierung menschlichen Lebens in dieser Weise erscheint als
ein Novum, das dem grundgesetzlichen Schutz widerspricht, und als großes
ethisches Problem12. Sie berührt den Basiskonsens
rechtsstaatlicher Demokratie. Für einen geborenen Menschen käme sie in
keinster Weise in Frage und auch kurz nach oder vor der Geburt wird sie
selbst für mangelhafte Entwicklungsstadien des Menschen nicht
praktiziert 13 .
Die Stammzelltherapie wird aus diesen Gründen deshalb auch als
ein Paradebeispiel für die Notwendigkeit eines gestuften Lebens-
schutzmodells dargestellt. Anders als etwa bei der Prä-implantationsdiagnostik14
, bei der Embryonen künstlich gezeugt und wegen einer genetischen
Krankheitsdisposition vernichtet werden, aber „lediglich“ die
Indikation einer Risikoschwangerschaft für einen solchen
paradoxen Umgang mit dem Gut früher menschlicher Keime ge-geben
ist, liegt bei der Frage nach der Stammzelltherapie eine eindeutigere
medizinische Notsituation vor. Die moralische Problematik , dass
für die Gewinnung von embryonalen Stammzellen Embryonen erzeugt und anschließend
vernichtet werden, ist für viele Mediziner durch die Aussichten auf
echte Alternativen in der Hilflosigkeit gegenüber vielen schweren
Krankheitsbildern zu vernachlässigen. Hier würde eine Abwägung
zwischen der Vernichtung menschlichen Lebens in frühesten
Stadien und dem Nutzen für eine anders nicht mögliche therapeutische
Behandlung an lebenden Menschen ein entscheidendes Gewicht auf die
Erfolge solchen Handelns legen müssen. Die Verschwendung der Natur im
Umgang mit frühen menschlichen Keimen, das Gebot, Menschen mit schweren
gesundheitlichen Leiden zu heilen, lässt das Argument eines absoluten Tötungsverbotes
als abstrakt und tabuartig erscheinen, das auch auf früheres
embryonales Leben ausgedehnt wird. Unermüdlich weisen
Naturwissenschaftler darauf hin, das es eben nicht darum geht, aus
beliebigen, vielleicht luxuriösen Anliegen heraus menschliches Leben in
frühesten, aber begrenzt definierten Stadien zu nutzen, sondern es geht
um ernste therapeutische Ziele, die schweres Leid von lebenden Menschen
zur Bewältigung im Blick haben.
c) Die strukturgebende Funktion
der Ethik
Dennoch ist der Gedanke. dass
hier menschliches Leben (in sehr frühen Stadien) für therapeutische
Ziele verzweckt wird, nicht ohne ethischen Belang. Die genetische
Eindeutigkeit der Entwicklung des Menschen auch in frühen Stadien als Mensch15
, der Sinnzusammenhang, der zwischen dem
Umgang mit menschlichem Leben in ersten Differenzierungsformen
und der Kultur der Achtung des
individuellen Menschen besteht 16 , ist kaum zu bestreiten.
Die Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland hat sich bisher bemüht,
den Grundrechtsschutz auch auf vorgeburtliche Stadien menschlicher
Reifung zu beziehen (Abtreibungsrecht, Embryonenschutzgesetz), um hier
willkürlicher Verzweckung menschlicher Keime entgegenzusteuern17 .
Theologische Ethik veranschlagt auf Grund dieser „Logik“ den
Lebensschutz von Anfang an sehr hoch. Es ist auch nicht
einzusehen, warum eine solche Einschätzung irrationaler oder
fundamentalistischer sein soll als eine rein szientistische eines instrumentalisierenden
Forscherdrangs.
Eine gesetzliche Freigabe der Nutzung eines menschlichen
Lebewesens zu Zwecken, die mit
seiner eigenen Existenz und seinem Leben nichts zu tun haben - und wäre
es auch nur ein einziges Mal - wäre tatsächlich eine schwerwiegende Änderung
der Auffassung vom Lebensschutz. Rechtssystematisch
neigt eine solche Änderung zu neuen Begehr-lichkeiten. Es wäre sicherlich schwer verständlich, wenn moderne
Medizin sich bleibend - etwa mittels des therapeutischen Klonens - auf
embryonales Leben als Ressource für heilende Medikamente basieren
wollte. Seriöse Forschung versichert, sie wolle sich embryonaler
Stammzellen nur vorübergehend bedienen, um daran moderne
Zellersatztherapietechnik mit adulten Stammzellen zu erlernen. Aber auch
ein solcher Ansatz wird sich kaum
einer Dynamik entziehen können, in der aus der einmaligen Nutzung in
entsprechenden Konfliktfällen eine breitere werden könnte18 .
Das christliche Menschenbild widerspricht einer solchen Vision
allerdings eindeutig: Heilung auf Kosten eines menschlichen Lebewesens
statt Heilung für menschliche Lebewesen, so weit es in unserer Macht
steht, ist keine christliche Alternative. Und eine umfassende
Sparsamkeit forschender Energie berücksichtigt auch die moralischen
Kosten - um wirkliche Innovation im Einklang von sachlichen Zielen und
kulturellen Orientierungen zu gewährleisten.
__________________________________
1 Vgl. O. Höffe, Moral als Preis
der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt (stw
1046)
Frankfurt
3 1995
2
Vgl. J.Römelt, Freiheit, die mehr ist als Willkür.
Christliche Ethik in zwischenmenschlicher Beziehung,
Lebensgestaltung, Krankheit
und Tod
( Handbuch der Moraltheologie
2 ).
Regensburg
1997,220-227.
3
Gesetz zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz –
(ESchG), in: Bundesgesetzblatt
Nr.69
(1990) , 2746-2748, §5.
4 Dennoch werden schon heute von
manchen Forschern für früh manifestierende monogenetische Erkrankungen
Keimbahntherapien gefordert.
5 Der Ruf nach klaren ethischen
Normen zur Begrenzung von Forschung darf nicht übersehen, dass viele
Fragen sachlicher und kultureller Ziele moderner Forschungsbemühungen
erst im Vollzug beantwortet werden können, weil eindeutige
Objektivierungen der relevanten moralischen Werte und sachbezogenen
Risiken und Chancen schwierig sind. Es bedarf eben auch einer Offenheit
von Forschung.
6 Vgl. allerdings
die immer neuen Bemühungen, Sachebene und existentielle Ebene in dieser
Frage miteinander zu balancieren: E. Schwinger/J.W. Dudenhausen,
Nichtdirektive humangenetische Beratung: Molekulare Medizin und
Genetische Beratung. Ein Leitfaden der Stiftung für das behinderte Kind
zur Förderung von Vorsorge
und Früherkennung Frankfurt 1999.
7
Vgl. Joh.E.Haefner, Gutheit der Schöpfung und Verbesserung
der Natur, in Th Hausmanninger (Hg).
geklont am 8. Schöpfungstag. Gentechnologie im interdisziplinären
Gespräch Augsburg 1999,
67-87
8
Vgl J. Römelt, Christliche Ethik im pluralistischen Kontext
Eine Diskussion ethischer Reflexion in der Theologie (Studien der
Moraltheologie. Abteilung Beihefte 4) Münster 2000, 77-79:
„Theologische Ethik als protologische und eschatologische Anamnese:
Grenzen wissenschaftlicher Forschung und menschlicher Technik".
9 Vgl. z B. das Interview mit James Watson: „Ich bin
dafür, die Evolution zu verbessern..“
F.A Z., 28
]uni 2000.
10 Vgl. P. Gruss, Stammzellen:
Stammkapital einer neuen Medizin?, in: Max Planck Forschung Heft 2
(2000) 66-70.
11 Deutsche Forschungsgemeinschaft,
Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Forschung mit
menschlichen Stammzellen vom 3.5.2001,
in: FAZ, 11.5.2001, 53.
12
Vgl.
S. Ernst, Stammzellenforschung und Embryonenschutz, in: StZ 126 (2001)
579-590.
13 Vgl. die Ablehnung der Verwendung
von Anenzephalen für die Entnahme von Organen zur Transplantation an
Kindern: vgl. W. Kablke/S. Reiter-Theil (Hg.), Ethik in der Medizin.
Stuttgart 1995 (Kapitel zur Organtransplantation).
14 Vgl. P. Fonk, Schwangerschaft auf
Probe? Pränatale Diagnostik und Präimplantationsdiagnostik als
ethische Herausforderung (II), in
ETHIVA 7 (1999) 143-171.
15 Nach biologischer Einsicht „ist
der Beginn menschlichen Lebens mit der Verschmelzung von Ei- und
Samenzelle gegeben. Denn in diesem Vorgang liegt ein qualitativer Sprung
etwas völlig Neues entsteht. Alle Entwicklungsstufen können die
Kontinuität des gesamten Prozesses, in dem sich ein Lebewesen nicht zum
Menschen, sondern als Mensch entwickelt, nicht in Frage stellen. So ist
es willkürlich. bestimmte Zäsuren innerhalb dieses Kontinuums als
Bezugspunkte für Stufen der Anerkennung des entstehenden menschlichen
Lebens zu nehmen. Auf das
Leben, das mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt, bezieht
sich die Anerkennung und der Schutz: Dieser Zellhaufen ist mit der Personwürde umkleidet, beglänzt, umleuchtet.“
- 0. Bayer, Nur ein Zellhaufen? Die
personale Würde ist in Gefahr, in: Die Zeit l/2001.
16 Vgl. G. Rager, Embryo - Mensch ~
Person. Zur Frage nach dem Beginn Lebens, in: J.P. Beckmann(Hg.), Fragen
und Probleme einer medizinischen Ethik (Philosophie und Wissenschaft.
Transdisziplinäre Studien 10) . Berlin 1996, 254-278.
17 Der Hinweis darauf, dass in
Deutschland der Embryo im Reagenzglas radikaler geschützt ist als im
Mutterleib, weil frühabtreibende Empfängnisverhütung und Abtreibung
erlaubt seien, ähnliche Manipulationen
in vitro aber streng untersagt sind, offenbart eigentlich nur die
ethische Sensibilität des
Umgangs mit künstlich gezeugten menschlichen Lebewesen. Bei den
Lebensschutzfragen in vivo liegt immer eine Konfliktsituation vor, in
der es um das Leben der
Eltern mit ihren eigenen Kindern geht. Ein Konsens, der tragische
Spannungen in diesem Bereich mit
- wie etwa in der Schwangerschaftskonfliktberatung – äußersten
(ethisch selbst problematischen) Kompromissen zu balancieren versucht,
ist kaum geeignet, einfach vordergründig auf völlig anders gelagerte
Problemfelder übertragen zu werden. Solche pauschale schlagwortartige
Rhetorik widerspricht jeder sachlichen. differenzierten
Sicht. Es hat durchaus Sinn, Lebensschutz für Embryonen in
vitro, für deren Entstehen der Mensch viel bewusster Verantwortung trägt
und die möglichen Manipulationen viel unmittelbarer ausgesetzt sind,
schärfer zu fassen als im Blick auf oft hilflose Brüche im chaotischen
Verhalten menschlicher Prokreation in vivo.
18 Naturwissenschaftler weisen
darauf hin, dass theoretisch zur Gewinnung einer Stammzellenlinie nur
ein einziger Embryo herangezogen werden müsste. Aufgrund des Potentials
der embryonalen Stammzellen könnte man dieses „Material“
theoretisch immer weiter vermehren (Vgl. P. Gruss,
Stammzellen ,68). Allerdings scheint es etwas naiv zu glauben,
dass - wenn der Lebensschutz für auch nur einen Embryo innerhalb
moderner medizinischer Forschung
gefallen wäre - die Zwänge der Konkurrenz zwischen den Forschergruppen
nicht zur Etablierung mehrerer Stammzellenlinien führen würde. Schon
hier ginge es um Nutzungsrechte und Vorteile, um Fragen der
Monopolisierung. Deutsche Forschungsteam beklagen ja gerade die
Angewiesenheit auf fremde „Stammzellprodukte“. Es ist nur zu
wahrscheinlich, dass die Aufgabe des Embryonenschutzes für eine einzige
verbrauchende Aktion einen breiteren Rückgriff auf embryonales Leben
als Ressource „medizinischer Rohstoffgewinnung“ nach sich zöge,
schon bei der Stammzellgewinnung, darüber hinaus aber möglicherweise
auch für andere (im Zuge weiterer medizinischer Entwicklungen sich
ergebende) Konfliktlagen.
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