Indische  Impresionen

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst

Peter Große

Ich stehe auf dem St. Thomas-Berg in Chennai, in der Nähe des Flughafens. Hier liegt eine wichtige historische Stätte der Christenheit. Nach der Überlieferung starb an dieser Stelle der Apostel Thomas. Der Blick vom Thomas-Berg in die Millionenstadt Chennai (Madras) lässt den Eindruck entstehen, dass die Stadt in einem riesigen Park liegt. Das Grün reicht bis zum Horizont und unter dem Grün verbergen sich der Glanz und das Elend dieser Stadt.

Kaum bin ich auf der großen Straße, die ins Stadtzentrum führt, umgeben mich unglaublicher Lärm, der Gestank der Abgase und unendliche viele Menschen. Wenn ich mir Chaos vorstelle, dann muss ich an diese schöne und abstoßende Stadt denken. Sie ist faszinierend und verwirrend zugleich. Faszinierend ist die Größe, faszinierend sind auch die vielen Menschen, der Reichtum, die Armut und das Elend, das mir dort begegnet. Ganz anders ist es dann, wenn ich aus Chennai raus bin. Ich fahre mit der Bahn nach Tiruchirapalli. Dort treffe ich die Mitarbeiter der Entwicklungsabteilung der Lutherischen Tamil-Kirche. Mit ihnen fahre ich aufs Land. Wir wollen uns Projekte anschauen. Unser Ziel ist der Ramnad-Distrikt. Das Grün nimmt ab. Es gibt immer mehr Dornbüsche. Die Erde ist gerissen. Der Regen fehlt. Vereinzelt stehen Hütten an der Straße. Es ist sehr heiß.

Wir erreichen endlich das Dorf. Es liegt bei Paramakudi. Die Hütten sind aus Lehm. Die Dächer wurden aus Palmblättern geflochten. Die Menschen sind arm. Das sieht man. Es sind Tagelöhner, die für die Grundbesitzer arbeiten, wenn Arbeit da ist. Die Armut hat sich von Generation zu Generation vererbt. Ich denke unwillkürlich an den Psalm, wo es heißt: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst. Du hast ihn weniger niedriger gemacht als Gott.“ In diesen Worten des 8. Psalms steht der Mensch im Mittelpunkt. Er ist das Geschöpf Gottes. Daran gibt es keinen Zweifel. Die Frage, die sich mir stellt, ist nicht, was der Mensch? Sondern ich frage: „Sehen das andere Menschen auch so?“

Das Elend, das ich hier sehe, besteht in einer relativ hoffnungslosen Situation, in der sich die Menschen befinden. Wasser gab es nicht. Man musste 4 Kilometer laufen, um es zu holen. Nun gibt es einen Brunnen, der ihnen gehört. Er wurde mit Hilfe unsers (Ev.-Lutherischen) Missionswerkes von der Entwicklungsabteilung der Kirche gebaut. Im Dorf wohnen nur Dalits. Früher  sagte man: “Unberührbare“. In vielen konservativen oder auch rückständigen Landstrichen Indiens dürfen die Dalits noch nicht einmal das Wasser aus dem Dorfbrunnen selbst ziehen. Nach hinduistischer Auffassung könnten sie ja das Wasser verunreinigen. Nein, sie müssen warten, bis ein Kastenmensch kommt, der ihnen wohlgesonnen ist und für die Dalits das Wasser aus dem Brunnen zieht. In solchen ländlichen Dörfern lebt man auch nicht mit den Dalits zusammen. Sie müssen in der „kasbah“ leben. Das ist ein abgesonderter Ortsteil. Ich denke unwillkürlich an meinen Urgroßvater, der als Gutsinspektor in Wörbzig bei Leipzig gearbeitet hat. So ähnlich war es bei uns. Ich kann bis heute genau sagen, wo damals die Tagelöhner wohnen mussten. Als Kind wusste ich, dass ich da nicht hin durfte. Aber in diesem kleinen indischen Dorf ist es nicht viel schlimmer. Im hinduistischen Gesellschaftssystem kommen diese Menschen nicht vor. Als ich noch in Indien lebte, haben mir meine kastenlosen Mitarbeiter oft erzählt, dass selbst die Umgangssprache die Dalits diskriminiert. Man sagt nur zu Hunden:“Va“ (Komm). Man sagt das aber auch zu Dalits. Was ist der Mensch angesichts dieser Lebenssituation? Indem Dorf muss viel geschehen, ehe sich etwas verändert. Die Menschen im Dorf sind überwiegend Christen. Wir beten zusammen. Wir reden, und ich höre mir ihre Geschichten an. Viele junge Leute haben das Dorf verlassen. Sie versuchen, in der Stadt Fuß zu fassen. Das gelingt aber nicht immer. Mir wurde erzählt, dass der Regen immer seltener kommt. Von daher wird auch die Arbeit immer weniger. Bedrückt fahren wir zurück. Nach 3 Stunden wird alles grün .Das Kaveri-Delta mit seinem Wasserreichtum kündigt sich an. Nach ein paar Tagen bin ich zurück in Chennai. Mit einem Sozialarbeiter fahren wir in einen der vielen Slums. Nahe  einer  unendlich großen Müllkippe liegen Hütten. Wir halten im kleinen Sozialzentrum, dort treffe ich eine Frauengruppe. Sie lernt lesen und schreiben. Eine junge Frau unterrichtet sie. „Wir leben von der Müllkippe“, sagt sie. Papier, Glas und Plastik wird gesammelt und dann verkauft. Es gibt kein Licht, Wasser muss vom öffentlichen Zapfhahn geholt werden. Schule und Kindergarten gibt es nicht. Die Müllkippe stinkt. Menschen, die so leben, sind nicht arm, sondern leben im Elend. Diese Unterscheidung habe ich gelernt, arm sein lässt dem Menschen noch die Würde. Das Elend löscht selbst die Würde aus.

Der Mensch steht im Mittelpunkt der Schöpfung, daran ist nicht zu rütteln. Zu rütteln aber ist an den Verhältnissen, unter denen viele Menschen auf dieser Erde, nicht nur in Indien, leben müssen. Der Beitrag der (christlichen) Mission heute besteht überwiegend darin, wieder den Menschen als Geschöpf Gottes zu sehen. Das geschieht durch die vielen kleinen Initiativen, aber es geschieht auch, indem wir etwas dafür tun, indem wir einfordern, dass Menschen auch an der Schöpfung Gottes teilnehmen können.

Peter Große

 

Kurze Biographie: Peter Große ist nicht nur engagierter Christ, sondern auch. evangelischer Pfarrer. Er hat in Indien  lange Zeit als Missionar gearbeitet. Jetzt lebt er in Leipzig und ist Direktor im Ev. - Lutherischen Missionswerk Leipzig, Deutschland.

 

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