Die Länder Asiens

Im Zeichen des Drachen

Von Ina Reckziegel

Woher kommst du? Wie lange bleibst du? Wo fährst du hin? Wie findest du es denn, dass auch wir jetzt zur WTO gehören? Wie gefällt dir Peking? Die Neugierde der beiden jungen Chinesinnen ist kaum zu stillen. Wie ein Schwamm saugen die Studentinnen Informationen und Meinungen der Langnase aus Deutschland auf, kontern in nahezu fehlerfreiem Englisch. Wir stehen auf dem Tiananmen- Platz, und mit jedem Zentimeter, den die Sonne hinter der großen Halle des Volkes versinkt, strömen mehr Menschen auf das Areal.

Der Platz des Himmlischen Friedens, 1989 auch im Westen zu Berühmtheit gelangt - wenn auch zu trauriger - , besitzt immer noch magische Anziehungskraft. Besonders bei Sonnenuntergang, dann, wenn die Nationalflagge vor dem Südtor der Verbotenen Stadt eingeholt wird. Eine Attraktion, etwa vergleichbar mit dem Spektakel der Wachablösung vor dem Buckingham- Palast in London.

Und dafür kommen sie aus allen acht Stadtteilen der 13 - Millionen- Metropole, manche sogar aus anderen Provinzen. Da werden kunstvolle Drachengebilde in schwindelnde Höhen geschickt, Picknick- Taschen ausgepackt, Postkarten angeboten, oder man lässt sich einfach nur über die riesige Fläche treiben – 50 Hektar, fast sieben Fußballfelder groß- dehnt sie sich aus zwischen den südlichen Mauern der Verbotenen Stadt, dem Volks- Kongress und dem Revolutionsmuseum, bis hinter das Mao- Mausoleum. Ein gigantisches Rechteck, sicher der größte Platz der Welt.

In China fällt alles ein bisschen größer aus: Allein schon die Dimensionen der Hauptstadt Peking sprengt unser Vorstellungsvermögen. Das politische Machtzentrum, in der nordchinesischen Ebene gelegen, beansprucht inzwischen eine Fläche von 16800 Quadratkilometer – 1000 Quadratkilometer mehr als das Bundesland Schleswig- Holstein.

Sechsspurige Autobahnen umschließen die Mega-Metropole in fünf Ringen, die Hauptverkehrsadern sind vierspurig, Radwege haben eine Breite unserer Landstraßen, Trotzdem können die großzügig angelegten Straßen ein Verkehrschaos nicht verhindern – denn in Peking sind inzwischen fast so viele Autos wie Fahrräder registriert: knapp zehn Millionen. Und es werden täglich mehr : Die Autoindustrie rechnet mit einem jährlichen Wachstum von 15 Prozent in China – und das wird wohl auch vor Peking nicht Halt machen.

 

Seit der „kleine Deng“, wie die Chinesen den Reformer Deng Xiaoping nennen, Ende der 70er-Jahre vorsichtig das starre sozialistische Korsett lockerte und sich das Land peu a peu dem Westen zu öffnen begann, fährt China auf der Überholspur.

In den letzten Jahren scheint es sogar, als hätte China noch einmal mächtig beschleunigt. Überall in den Großstädten sprießen modernste Komplexe internationaler Hotelketten wie Pilze aus dem Boden, weltweit renommierte Architekten liefern sich ein Design- Duelle, wer den grandiosesten Wolkenkratzer baut. Gearbeitet wird offenbar rund um die Uhr, zumindest abends um zehn reißen Bagger noch tiefe Löcher in Straßen ,wummern Pressluftbohrer hinter abgedeckten Hochhausfassaden. Da ist es nicht weiter überraschend, dass die Pfeiler für die Transrapid - Trasse in Shanghai bereits vollzählig stehen- gerade einmal einein halb Jahre nach der Vertragsunterzeichnung.

 

Und während Peking auf riesigen Plakaten für die Olympiade 2008 wirbt, verkündet Shanghai bereits seine Bewerbung für die Weltausstellung 2010.

Auch die Formel- 1- Rennstrecke ist geplant. Es hat den Anschein, als müsse China die westlichen Errungenschaften im Turbotempo aufsaugen.

 

 Ich weiß nicht, wohin das führen wird“, fragt sich Herr Wu. „Wir Chinesen verlieren langsam unsere Moral, werden  immer raffgieriger und egoistischer- und sind nur noch auf unsere Vorteile bedacht“, gesteht er und schimpft: „Mittlerweile haben wir uns all die Eigenschaften angeeignet, die wir früher am Westen kritisiert haben.“ Deshalb bittet Herr Wu auch ausdrücklich, seinen Namen nicht zu nennen – zumindest nicht seinen richtigen.

 

China hat zweifelsohne zwei Gesichter. Hier die glitzernden Hochhausfassaden mit dem unbändigen Ehrgeiz, das Third- World- Image abzustreifen, um mit den reichen Industrienationen gleichzuziehen; geht man aber ein paar Meter weiter, stößt man auf einstöckige Stadthäuser ohne Elektrizität und ohne Toiletten. Wie in alten Zeiten bringt man stattdessen morgens das tönerne Nachtgeschirr gemächlichen Schrittes zur Gemeinschaftsdeponie.

 

Tagsüber sitzt man draußen vor der Tür und bietet sein handwerkliches Können an. Da ist die Schneiderin, die auf einer alten klapprigen Nähmaschine ein buntes Etwas zusammennäht, ein paar Meter weiterflickt der Schuster gleich neben dem Zahnarzt ein paar Sohlen, während der Nachbar seinem Patienten unter freiem Himmel den Zahn zieht.

 

Zwischendurch vergnügt man sich mit dem Würfelspiel Ma Yong und ärgert sich vermutlich über die Touristen, wenn diese jeglichen Anstand vergessen und ihre Langnasen ungeniert in den Suppentopf stecken, hinter dem noch das zerwühlte Bett steht.

Zugegeben, es ist auch zu verlockend, Chinas Ursprünglichkeit live zu erleben, die die Fremdenführer nur ansatzweise streifen, Ihr Ziel ist vielmehr, den Fremden ihre faszinierende Kultur zu vermitteln, den mächtigsten Staat der Antike. Aufzeichnungen zur Geschichte aus dem „Reich der Mitte“ ( die Übersetzung für China ) reichen bis 1600 v. Chr. zurück, Zeugnisse der Kultur sind teilweise sogar 6000 Jahre alt.

Neben den monumentalen Kulturdenkmälern wie dem Kaiserpalast in Peking mit seinen 9999 Zimmern – die sich über eine Fläche von  720 000 Quadratmetern ausdehnen-, dem großartigen Himmelstempel oder der imposanten, 6350 Kilometer langen Großen Mauer- die laut Astronauten als einziges Bauwerk der Welt mit bloßem Auge aus dem Orbit erkennbar ist- ist es vor allem der Erfindungsgeist und die unglaubliche Geschicklichkeit, die uns beeindrucken . Ob Kompass oder Trittwebstuhl, Rauchbombe, Tränengas, Schießpulver oder die Erfindung des Papiers- unzählige Pioniertaten gehen auf das Konto der Chinesen. Vermutlich ist es erst ein Bruchteil dessen, was in den nächsten Jahren noch zu Tage gefördert wird. Denn rund um Xi´ an herrscht Aufbruchstimmung. Xi´ an, einein halb Flugstunden westlich von Peking gelegen, gilt als wahre Fundgrube für Archäologen. Von hier aus unterwarf der Erste Kaiser (Qin- Dynastie) die anderen Königreiche, wurde die Stadt Ende des 6. Jahrhunderts eine Metropole von Weltgeltung.

 

Zwei Millionen Menschen sollen in Chang´ an,  so der ursprüngliche Name, gelebt haben; hier trafen sich japanische Pilger, persische Kaufleute und indische Mönche. Denn Chang´an war auch das Tor zur Seidenstraße. Hier schlummern unter dem mit Löß bedeckten Boden unvorstellbare Schätze: Regenten aus acht Jahrhunderten sind hier begraben . Ihre Grabstätten sind noch unberührt. Lediglich einige Grabbeigaben wurden bislang freigelegt. Der sensationellste Fund ist zweifellos die Terrakotta- Armee aus der Grabanlage von Qin Shi, dem Ersten Kaiser. Sie wurde quasi per Zufall von einem Bauern entdeckt. Zumindest gab er den Anstoß, als er im März 1974 beim Ausschachten eines Brunnens einen Terrakotta- Kopf fand. Inzwischen wurden 8000 Soldaten ausgegraben- und die Chinesen nennen sie stolz das Achte Weltwunder.

Es ist tatsächlich bemerkenswert, wozu die Chinesen schon damals in der Lage waren. Der Sonnenbaldachin an einem Streitwagen verfügt über eine Technik, die man vor allzu langer Zeit noch bei uns als große Errungenschaft feierte: Je nach Sonnenstand lässt er sich nämlich abknicken. Auch die lebensgroßen Krieger sind nicht etwa simple, einförmige Tonfiguren mit starrer Physiognomie, vielmehr modellierten die Tonkünstler jedem einzelnen individuellen Gesichtszüge. Verpassten ihnen unterschiedliche Haartrachten, präsentierten sie mal stehend, dann wieder kniend- kurzum, sie bildeten realitätsnah die Armee des als größenwahnsinnig wie genial geltenden Herrschers nach. Über 700 000 Zwangarbeiter schufteten Tag für Tag, um das kilometerweit verstreute Mausoleum zu vollenden. Ähnlich viele Menschen soll er auch abkommandiert haben, um erste, bestehende Fragmente der Großen Mauer als Bollwerk gegen die Barbaren aus dem Norden zusammenzufügen.

 

Noch heute setzt man in China auf die Arbeitskraft des Einzelnen. Heerscharen fleißiger Arbeitsbienen streifen durch die Straßen, kehren mit Reisigbesen und kleinen Schippen jeden Krümel von der Straße- in den kleinen Stadtvierteln unter dem gestrengen Auge der „Oma- und Opa- Polizei“ . Das sind Pensionäre, erkennbar an einem roten Band am Oberarm, die ihre Freizeit in den Dienst der Allgemeinheit stellen und für Ordnung sorgen. Mit dem Ergebnis, dass die Straßen so blitzsauber sind, dass man Hemmungen hat , etwa einen Zigarettenstummel fallen zu lassen.

Überhaupt wird Handarbeit in China allerorts groß geschrieben: Ob in der Zuchtperlenfabrik, in der junge Mädchen per Hand winzigste Löcher in die ohnehin winzigen Süßwasserperlen bohren, um sie im letzten Arbeitgang auf Schüre zu fädeln; oder bei der Herstellung von Teppichen, an dem eine Knüpferin ein Jahr lang an einem 40 mal 50 Zentimeter großen Teppich arbeitet. All das lässt sich nachvollziehen. Ins Staunen gerät unsereins aber doch, wenn er auf den begrünten Verkehrsinsel Menschen hocken sieht, die mit der Schere das Gras schneiden, oder hört, dass in Shanghai ab nachts um zwei Uhr alle Hoch- Autobahnen gesperrt werden, damit die Gärtner die Hecken in den einzeln aufgehängten Blumenkästen schneiden können.

 

1,23 Milliarden Menschen leben heute in China- trotzrigider Ein- Kind Politik. Aber erst 100 Millionen, so schätzt man, haben die Kaufkraft, auf die die Industrie aus den übersättigen Nationen setzt. Sie leben in den Mega- Metropolen Shanghai, Peking, Xi´an, Wuhan, Hangzhou, oder haben sich rund um Chongqing angesiedelt – ein gigantischer Stadtstaat am Ufer des Yangtze, in dem inzwischen 31 Millionen Menschen wohnen. Sie leben in Hochhäusern mit Aufzügen, haben ein Auto, wenn sie das nötige Kleingeld für einen Garagenplatz besitzen und mit 400 bis 500 Yuan (bis ca. 55 Euro) pro Jahr den Straßenbau unterstützen können. Sie lesen ihren Kindern jeden Wunsch von den Augen ab- und wenn’s der ist, tagtäglich zu

Mc Donald´s zu pilgern, Fast- Food- Tempel gibt es reichlich- allein 60 davon in Peking.

 

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist die Landbevölkerung. Trotz zunehmender Landflucht leben noch 90 Prozent aller Chinesen auf dem Land. Wie, erlebt man eindrucksvoll in der Kulisse zwischen Yichang und Wuhan oder während einer Yangtze – Kreuzfahrt. Es ist die letzte Chance, zumindest in dieser Region, das ursprüngliche China zu genießen. Nächstes Jahr wird einer der berühmtesten Landstriche des drittgrößten Landes dieser Welt- die mystische Drei- Schluchten- Passage- für immer untergehen. Noch sieht man überall an den Ufern Getreidefelder, Raps, Obst- und Gemüseanbau und Bauern , die ohne Maschinen ihre Felder bestellen. Am Ufer waschen Frauen ihre Wäsche, während in der Strommitte von China längstem Fluss kleine Frachter tuckern, die Vieh transportieren, Kohle oder Holz. 175 Meter über ihren Köpfen zeugen rote Markierungen an den Felsen vom künftigen Wasserstand.

 

Sie alle werden im Juni kommenden Jahres ihre Heimat verlieren, müssen ihre Felder aufgeben, ihre Häuser verlassen und sollen in neumodischen 08/ 15 Plattenbauten ein neues Leben beginnen. Sie machen Platz für den größten Staudamm der Welt: 1000 Quadratkilometer werden geflutet- eine Fläche, doppelt so groß wie der Bodensee. Im Jahre 2009 soll der Staudamm rund 15 Prozent des chinesischen Strombedarfs mit umweltfreundlicher Wasserkraft decken. Doch der Preis dafür ist hoch: 1,3 Millionen Menschen werden deshalb umgesiedelt, 153 Städte und 1352 Dörfer verschwinden für immer.

 

Eine schwer nachvollziehbares Projekt- auch im modernen China, das trotz seines Strebens nach westlichen Errungenschaften seiner ureigensten Lebensphilosophie verbunden geblieben  ist: dem Gleichgewicht zwischen Yin und Yang- einem Leben in Harmonie.

 

                                                                                      INA RECKZIEGEL

 

 

Ina  Reckziegel bereist viele Länder Asiens und schreibt verschiedene Reiseberichte.

Sie ist eine der wenigen Chefredakteurinnen in der Presselandschaft Deutschlands. Jetzt leitet Sie die Redaktion der Zeitschrift Motor und Reisen des Automobilclubs von Deutschland ( AvD ) .     

 

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