Gehen und Kommen

Lis Kleeberg

Als mein Bett in der „Dr.-Sacke- Klinik Leipzig“ aus dem Krankenzimmer mit mir zum Aufzug gefahren wurde, war heller Tag, Mai, 6.45 Uhr.

 

Jetzt befand ich mich in einem größeren Raum, in dem fünf oder sechs Patienten lagen. Sonne schien herein. Nebenan ein neonbeleuchtetes Fenster, hinter dem sich in grünlicher Sterilkleidung Personen bewegten.

Mir war klar: Der Operationsraum.

„Frau Kleeberg? “

„ Ja ! „ Rief ich.

„ Alles Okay ? „ An seiner umrandeten Brille und der Stimme erkannte ich Herrn Professor Ascherl. „ Sie sind bereit ? “

„ Ich bin bereit , natürlich ! „ In diesem Moment näherte sich eine gelbliche Halbmaske meinem Gesicht. „ Lachgas ? “ Fragte ich überflüssiger Weise. „Ja ! „ Hörte ich noch, als in selber Sekunde die Welt mich verließ.

 

Bei völliger Dunkelheit tauchte hinter meinen geschlossenen Lidern schemenhaft in weiter Ferne ein winziger , lichter , Ball , auf. Geräuschlos. Faszinierend in seiner zartbunten Schönheit. Alles dort bewegte sich ineinander und miteinander verschlungen in unbekannter schlichter Einheit. Mir war, als blicke ich durch ein sehr, sehr langes Fernrohr. Aber kein Globus im üblichen Sinn war das, was ich sah. Eine Scheibe ? Schale ? Platte ? – Plötzlich ging dieses wunderschöne Etwas wieder weg vor meinen Augen. Wohin ? Die völlige Dunkelheit hatte mich wieder.

 

Wie viel Zeit mag vergangen sein, als mir dieses Bild – wie aus dem Kosmos in seiner milden Harmonie – erneut erschien; nur dominierender jetzt; näher herangerückt. Wirklich wunderschön. Wie ein ferner, fremder  Stern aus unbekanntem All. Auf keinen Fall eine zerrupfte Welt. ’ Meine ‚ Welt war phantastisch, im sich langsam wiegenden lautlosen Bewegen. Dieses lockere, schwebende Mosaik nahm ich staunend in mich auf, gab mich glücklich total dieser lockenden Schönheit hin. Stunden ? Minuten? Bis mich die Finsternis wieder erfasst hatte.  

 

Mit einemmal, traumhaft, dämonisch war es wieder da, dieses zarte, runde Schauspiel. Es war wieder etwas größer geworden. Jetzt erschien es, so kam es mir vor, in kürzeren Abständen. Wie oft schon ? Fünfmal ? Noch öfter ? Näherkommend, könnte es mich sacht am Körper berührt haben.

Eine sanfte Stimme sprach deutlich in mein Ohr: „ Frau Kleeberg ? Hören Sie mich ? Ihre Enkelkinder haben angerufen; sie grüßen herzlichst und wünschen Ihnen alles, alles Gute zur Genesung. Auch ein Herr A. schickt Grüße. „

 

 Ich blinzelte ins Dämmerlicht. Eine Frau hatte zu mir gesprochen – Allmählich kehrten meine Sinne zurück : Ich nahm die Konturen meiner Umgebung wahr: Betten. ...Und meine beiden Enkelkinder haben sich um mich gesorgt – und telefoniert . Meine Lydia, mein Tilo !

Beruhigt, zufrieden schlief ich nochmals ein, in der Gewissheit, dass alles okay ist. Die Welt hatte mich wieder !

In der Zwischenzeit war es hell und sonnig im Raum geworden. Ich sah mich um. Die Wachstadion ! Am Bett neben dem Fenster saß ein Arzt; die weiße Tracht war unverkennbar. Er lachte mit seinem Patienten. Geräusche hin – und herrangierter Betten, die aus dem Zimmer gefahren wurden, ließen mich vollauf erwachen. Das Nachbarbett mit Patient entfernte sich als letztes vor mir. Ich wurde misstrauisch. Ich hier ganz allein ? Wenn auch völlig schmerzfrei; aber warum allein ? „ Und ich?“ Meine Frage war erkennbar ungeduldig.

„ Sie werden in wenigen Minuten ebenfalls wieder in Ihr Zimmer gebracht; dort bekommen Sie Ihr Frühstück,“ sagte freundlich eine Schwester im rosa Kittel.

Frühstück ! Das Zauberwort. Ich verspürte jetzt Hunger. Kein Wunder ! Einen vollen Tag war

Ich total jenseits  dieser Welt gewesen. Von ganz da oben hatte ich ETWAS schauen dürfen. Hatte wie durch ein wundersames Mikroskop geblickt und ein faszinierendes Bild gesehen. Hatte ich auf einen anderen Stern – auf eine heile Welt geblickt – Oder Was ? Welches Denken und Träumen hatte mein Hirn – meine grauen Zellen – hervorgerufen ? Was verbirgt sich darin ?

 Und wie kehren Sinne ganz allmählich zurück : Oder habe ich in ein Licht schauen dürfen, das, wie durch ein Tor, meine Sehnsucht nach einer schönen ungestörten Welt erfüllt ?

Ich weiß, ich habe davor gestanden – eines Tages werde ich da hindurchgehen.

Lis  Kleeberg

Lis  Kleeberg ist eine bekannte Schriftstellerin der damaligen DDR.  Ihre Hauptwerke sind u.a. „Schmale Sonne“, „ Das andere Leben“ und „Gegangen“, deren Auflagen betragen bis über 400.000 Exemplare, in der ehemaligen DDR ist es ein beachtlicher Erfolg. Lis Kleeberg hat im Jahr 2001 ihren 85. Geburtstag gefeiert, gleichzeitig mit der Vorstellung ihres neuen Romans „Gegangen“. Sie engagierte sich  sehr für das Kulturleben ihrer Geburtsstadt Leipzig, u.a. für die Wiedereröffnung der Zentralbibliothek Leipzigs nach der Wende. Zur Zeit lebt sie in Leipzig, schreibt ab und zu kleinere literarische Beiträge für verschiedene Zeitschriften und betreut  die amerikanische Übersetzung  ihres letzten Werks „Gegangen“.

(Siehe den Artikel über Lis Kleeberg von Nguyen-Khac Tien-Tung in Vietnamesisch in TIN NGUONG A CHAU)

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