Adolf Anselm Schurr

 

Das Selbstverständnis des Menschen

 

Philosophische Überlegungen zum christlichen Menschenbild

 

 

1.

Der Anspruch der  christlichen Religion

 

Das christlich-religiöse Glaube gründet im Anspruch der Menschwerdung Gottes in der historischen Gestalt Jesu Christi. Dieser Anspruch der Inkarnation eines personalen Gottes in Zeit und Geschichte, der uns in den vier Evangelien und den Briefen des Neuen Testaments überliefert wird, findet seine Rezeption und Interpretation durch das kirchliche Lehramt und die christliche Theologie.

 

Wie muß der christliche Glaube im Lichte rationalen Denkens beurteilt werden?  Ist er dem Zugang durch die Vernunft nicht gänz­lich entzogen? - Die Geistesgeschichte lehrt uns, daß eine rational begründbare Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes und seiner Menschwerdung durchaus möglich ist.

 

Im Globalisierungsprozeß unserer Gegenwart müßte dieser Mög­lichkeit eine ganz  entscheidende Bedeutung zuerkannt werden; denn durch die rationale Begründbarkeit des christlichen Offen­barungs­anspruches würde dem dominanten Interesse an wirt­schaftlichem Fortschritt und Wohlstand die Priorität der geistigen Dimension des menschlichen Daseins entgegengestellt.

 

 

 

2.

Präzisierung der Problemstellung

 

Die Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen findet heute eine fast unübersehbare Vielfalt von Antworten. Dies kann jeder bereits in seiner unmittelbaren Umgebung feststellen Die Medien vermitteln uns darüber hinaus die Kenntnis anderer  Kulturen mit  völlig verschiedenen Menschenbildern.

 

Ein solcher Tatbestand gilt nicht nur für unsere Gegenwart, sondern auch für die Vergangenheit; denn  eine Differenz von Menschenbildern kann für jede Geschichtszeit aufgezeigt werden. Umso mehr stellt sich die Frage: Läßt sich trotz aller  Verschiedenheit ein Menschenbild bestimmen, das allem kulturellen und geschichtlichen Wandel zugrunde liegt?

 

Daß diese Fragestellung nicht unmöglich ist, liegt allein schon darin beschlossen, daß wir bei aller Verschiedenheit von Menschen  sprechen, von der Unterscheidbarkeit eines Wesens, das wir als menschliches Wesen ansprechen und begreifen.

 

Wenn der Mensch um sich selbst weiß, wenn sein Existenzvollzug  in die Dimension des Wissens gehoben ist, dann muß auch die Frage nach seiner Wesensbestimmtheit im Medium des Wissens beantwortbar sein. - Wie muß diese grundlegende Frage in einem philosophischen Erkenntnisbemühen  beantwortet werden?

 

3.

Der Begriff der Philosophie

 

Es gibt eine Meinung, die man nicht selten hören kann, wenn von Philosophie die Rede ist. Es wird gesagt: 'Jeder ist sein eigener Philosoph!' Was ist davon zu halten? 

 

Es ist ohne Zweifel richtig, daß der Mensch über alles nachzudenken vermag, sozusagen  'über Gott und die Welt'. Dies bedeutet, daß im Hinblick auf ein ursprüngliches Fragen  nichts ausgeschlossen werden kann.

 

Soll demnach ein 'professionelles' philosophisches Nachdenken nicht hinter der ursprünglichen Möglichkeit des Fragens zurückbleiben, dann können für den Begriff der Philosophie bereits zwei Momente festgeschrieben werden:

 

1. Die philosophische Fragestellung muß als universale Fragestellung konzipiert werden.  

2. Der Gegenstand der Philosophie kann demnach nur im  Begreifen  der  Gesamtwirklichkeit  liegen.

 

Wie müssen beide Momente des Begriffes der Philosophie -  Fragestellung und Gegenstand - weiterbestimmt werden, wenn  apodiktische, d.h. zweifelsfrei gewisse Erkenntnisse intendiert werden?

 

Wenn in einer philosophischen Problemerörterung ausschließlich apodiktische Urteile  zugelassen werden, dann muß

 

1. die Fragestellung als radikales Fragen konzipiert werden

und

2. für ein Begreifen der Wirklichkeit müssen deren denk-notwendige Ermöglichungsbedingungen ermittelt werden.

 

Mit der Bestimmung der  Fragestellung und des Gegenstandes  ist die Problematik jedes ernsthaften und nicht bereits anfänglich  beschränkten philosophischen Erkenntnisbemühens angezeigt.

 

Nun ist keine Argumentation denkbar ohne von  ganz bestimmten Voraussetzungen auszugehen. Wenn daher in einer philo­sophischen Argumentation keine willkürlichen, sondern nur denknot­wendige Voraussetzungen gemacht werden, dann sieht sich das Denken ausschließlich auf das zurückverwiesen, was selbst eine radikale Skepsis fraglos voraussetzt: das Sein des Bewußtseins und dessen implikatives Vermögen des Denkens. 

 

Was steht einem solch reinen Denken zur Verfügung, um zu zweifelsfrei gewissen Urteilen zu führen? - Diese Möglichkeit apodiktischer Erkenntnisse eröffnet das jedem logisch-stringenten Denken verfügbare Kriterium der Denknotwendigkeit.  Mithilfe dieses Kriteriums reinen Denkens wird ein Sachverhalt so gedacht, daß er anders gar nicht gedacht werden kann.

 

Unsere bisherigen Überlegungen verweisen auf den Begriff  einer   erkenntnis-kritischen Philosophie[1], in der die Fragestellung  nicht beschränkt wird und ausschließlich apodiktisch gewisse Erkenntnisse intendiert werden. Für ein philosophisches Erkenntnisbemühen  müssen daher drei Momente  festgeschrieben  und festgehalten werden :

 

1. die  Radikalität der Fragestellung  

2  das reine Denken mit dem Kriterium der Denknotwendigkeit

    als Methode einer erkenntnis-kritischen Philosophie 

3. die Gesamtwirklichkeit als Gegenstand der Philosophie.

 

Wie muß mithilfe einer so verstandenen erkenntnis-kritischen Philosophie die Frage nach der Wesensbestimmtheit des Menschen    erörtert und beantwortet werden?

 

 

4.

Das Selbstverständnis des Menschen

 

Worin besteht die menschliche Wesensbestimmtheit, die dem Selbstverständnis des Menschen aller Zeiten zugrunde liegt? - Wie muß diese Frage in einer erkenntnis-kritischen Konzeption der Philosophie beantwortet werden?

 

Mit der Radikalität der Fragestellung ist die Dimensionalität der Problem­erörterung angezeigt: Wie mussen die denk­notwendigen Ermöglichungs­bedingungen  des Seins des Bewußt­seins gedacht werden?

 

Wenn das den  Menschen auszeichnende Vermögen in der Freiheit besteht, dann stellen sich zwei Fragen:

 

Was muß als denknotwendige Ermöglichungsbedingung gedacht werden

 

1. für die ursprüngliche Realisation der menschlichen Freiheit

und

2. für das Sein der menschlichen Freiheit überhaupt? 

 

Die Frage nach der denknotwendigen Ermöglichungsbedingung der ursprünglichen Realisation der menschlichen  Freiheit führt auf andere Freiheiten.

 

Die Frage nach der denknotwendigen Ermöglichungsbedingung des Seins der menschlichen Freiheit führt auf das Sein des Absoluten - religiös gesprochen: auf die Wirklichkeit eines personalen Gottes.

 

Die Erörterung der Wesensbestimmtheit des menschlichen Daseins erfolgt demnach in einer erkenntnis-kritischen philosophischen Reflexion auf der Grundlage einer zweifachen inter­personalen Bezogenheit:

 

1. in der Horizontalen  auf der Grundlage der welt-immanenten Bezogenheit auf andere Freiheiten

und

2. in der Vertikalen auf der Grundlage der welt-transzendenten Bezogenheit auf die  schlechthin absolute Freiheit eines personalen Gottes.

 

So gewiß beide Bezogenheiten als konstitutiv gedacht werden müssen, so gewiß ist ein adäquates Begreifen der menschlichen Wesensbestimmtheit nur möglich, wenn beide Interpersonal-Relationen veranschlagt werden, sowohl die Bezogenheit auf den anderen Menschen als auch die Bezogenheit auf die Wirklichkeit des Absoluten.

 

Unsere bisherigen Ausführungen verweisen auf zwei konstitutive Bezogenheiten des menschlichen Existenzvollzugs. Die These lautet: Beide Relationen - sowohl die welt-immanente als auch die welt-transzendente - müssen für das menschliche Dasein als wesensbestimmend gedacht werden. - Mit welchen Argumenten läßt sich die konstitutive Bedeutung der beiden Interpersonal-Relationen erweisen?

 

5.

Die konstitutive Bedeutung

der welt-immanenten Interpersonal-Relation

 

Wenn in einer philosophischen Reflexion von einer radikalen Frage­stellung ausgegangen wird, dann kann die ursprüngliche Artikulation eines Vermögens zur Freiheit nicht lediglich konstatiert werden; die Freiheit  muß vielmehr im Rückgang auf ihre denknotwendigen Ermöglichungsbedingungen thematisiert und begriffen werden. Unsere Frage lautet daher: Was muß als Ermöglichungsbedingung der ursprünglichen Realisation eines Vermögens der Freiheit gedacht werden?

 

Es ist unmittlbar einsichtig, daß eine durchgängige Deter­mination eines Vermögens zur Freiheit deren ursprüngliche Artikulation nicht nur nicht ermöglichte, sondern geradezu ausschlösse. - Was muß daher als Ermöglichungsbedingung dafür gedacht werden, daß ein bloßes Vermögen zur Freiheit sich ursprünglich  überhaupt als Freiheit zu artikulieren vermag?

 

Die fundamentale These einer von Fichte erstmals konzipierten Theorie der Interpersonalität liegt in der These beschlossen:

 

"Der Mensch [...] wird nur unter Menschen ein Mensch"

und zwar durch eine

"Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit"[2].

 

Wie muß diese These zur zeitlichen Genesis der Freiheit explizit gefaßt werden? - Wir verweisen hier lediglich auf zwei unmittelbar einsichtige Implikationen:

 

1. Im Verstehen einer Aufforderung zu freier Selbsttätigkeit verliert sich das Vorstellen nicht im Vorstellungsgehalt; es sieht sich vielmehr zugleich auf sich zurückverwiesen, auf die sich ihm verbindende Selbstbestimmbarkeit durch Freiheit.

 

2. Dem Verstehen einer Auffoderung als Sollen verbindet sich unabtrennbar eine willentliche Stellungnahme und zwar entweder als Affirmation oder als Negation zur selbsttätigen Verwirklichung der Sollens-Aufforderung.

 

Daraus folgt:

Zu welcher Stellungnahme das Verstehen einer Aufforderung zu freier Selbsttätigkeit auch führen mag, es evoziert in jedem Fall die Realisation eines Vermögens zur Freiheit.

 

Die reflexive Ermittlung der denknotwendigen Ermöglichungs­bedingungen der zeitlichen Genesis der Freiheit erweist ein Zwei­faches:

 

1. Die Interpersonal-Relation muß für das menschliche Dasein als konstitutiv und daher als wesensbestimmend gedacht werden.

 

2. Die Absolutheit des Durch-sich-Seins menschlicher Freiheit kann nur als ermöglichte Absolutheit begriffen werden, insofern die ursprüngliche Realisation eines Vermögens zur Freiheit ohne Aufgerufensein durch eine andere Freiheit nicht möglich wäre.

 

Erweist sich die Interpersonal-Relation von ihrem Ursprung her gesehen als konstitutiv, dann liegt im Zusammenwirken von Freiheiten unter rein formalen Aspekten eine grundlegende Dimension des menschlichen Daseins angezeigt.

 

Das prinzipielle Wechselverhältnis zweier Freiheiten kann nur so gedacht werden, daß die freie Selbstbestimmbarkeit von beiden Seiten nicht ausgeschlossen, sondern respektiert wird. Dies ist nur dann der Fall, wenn der andere in seinem Wollen und Handeln nicht gezwungen, sondern zu einem bestimmten Wollen und Handeln lediglich aufgefordert wird.

 

Demnach kann das die Freiheiten in ihrem Wechselverhältnis Verbindende nicht als Müssen, sondern nur als Sollen gedacht werden: als Aufforderung einer Freiheit zur Verwirklichung von etwas durch eine andere Freiheit. Die weiterführende  Frage für das menschliche Selbstverständnis lautet daher:

 

Wie muß das normativ Bestimmende der Wechselwirksamkeit von Freiheiten gedacht werden, wenn die Frage nach der Wesensverwirklichung des  menschlichen Daseins gestellt wird? - Diese Frage führt auf den Begriff der  menschlichen Freiheit überhaupt.

 

6.

Das Grundsein der menschlichen Freiheit

 

Man könnte von der Annahme ausgehen und es wird in der Tat davon ausgegangen, daß es der menschlichen Freiheit sehr wohl möglich sei, allgemein verbindliche Normen des Handelns aufzustellen. Dabei wird auf die Unverletzlichkeit von Menschenrechten und die Unantastbarkeit von der Menschenwürde verwiesen. 

 

Mit welcher Begründung könnte dem geforderten Imperativ normative Geltung zugesprochen werden? - Man könnte ihn aus dessen Verwirklichung zu begründen versuchen. Aber ein Blick auf den Gang der Geschichte vermag zu zeigen, daß deren Verlauf bis herauf in unsere Gegenwart gekennzeichnet ist nicht nur durch Freiheits-Achtung, sondern ebenso durch Freiheits-Verachtung.

 

Die entscheidende Frage lautet:  Vermag die menschliche Freiheit einzig und allein aus sich und durch sich eine Normativität zu kreieren, die den Anspruch einer Allgemeingeltung nicht nur zu erheben, sondern einzulösen vermag? - Kann die Frage durch eine Verweisung auf die Wirklichkeit der Geschichte und deren faktische-normative Ambivalenz nicht begründet werden, wie anderes ließe sich der geforderte Imperativ zur Freiheit begründen?

 

Werden für die erfragte Begründung keine zusätzlichen Voraus­setzungen zur erkenntnis-kritischen Argumentationsbasis veran­schlagt, dann kann die Begründungsmöglichkeit eines Imperativs für die Freiheit nur in der konstitutiven Bedeutung der Interperso­nal-Relation liegen. Es könnte und müßte - unter systematischen Aspekten - in der Tat folgendermaßen argumentiert werden: 

Wenn die ursprüngliche Artikulation der Freiheit nur gedacht werden kann als ermöglicht durch eine andere Freiheit, dann verdankt jede Freiheit ihr Sein als Selbstbestimmbarkeit einer anderen Freiheit. Gründet demnach die Realisation eines Vermögens zur Freiheit in der tätigen Eröffnung durch andere Freiheiten, so gebietet das Konstitutionsverhältnis umwillen der Freiheit selbst deren Unantastbarkeit. Dieser normative Verpflichtungscharakter des Imperativs zur Freiheit für die Freiheit liegt in der zeitlichen Genesis der Freiheit selbst beschlossen.

 

Die Stringenz der angezeigten erkenntnis-kritischen Argumentation zu dem Menschenrechte begründenden Imperativ dürfte selbst von einer radikalen Skepsis nicht bestritten werden können; aber sie wird die Frage stellen: Vermag der Besitz eines bloßen Vermögens dessen Realisation zu legitimieren? 

 

Es ist unmittelbar einsichtig, daß eine Legitimation nur im Warum und Wozu der Freiheits-Realisation liegen kann. Eine skeptische Anfrage verweist demnach notwendigerweise über das bloß Daß eines Artikulationsvermögens der Freiheit hinaus auf das Warum und Wozu freier Selbstbestimmung mit der Frage, ob und wie beides begründbar ist.

 

Für eine weiterführende Problemerörterung gilt es am Begriff der Freiheit festzuhalten, wonach als Setzungs- und Bestimmungs-Grund des Warum und Wozu freier Selbstbestimmung nur die menschliche Freiheit gedacht werden kann.

 

Angesichts der begrifflich-implikativen Absolutheit der Freiheit könnte man der menschlichen Freiheit aber nicht nur im Setzen, sondern ebenso im normativen Bestimmen des Wozu ihres Wollens und Handelns eine uneingeschränkte Autonomie zusprechen wollen.

 

Daß es sich bei einer solchen Konzeption der Freiheit nicht um eine bloß hypothetische Annahme handelt, dies lehren uns nicht nur Erfahrungen der Wirklichkeit, sondern auch philosophische Positionen der Philosophie der Gegenwart. Ich möchte  nur auf  einige fundamentale Thesen von Jean Paul Sartre verweisen. 

 

Mögliche Implikationen und Konsequenzen der Negation einer  Transzendenz-Bezogenheit des menschlichen Daseins werden von Jean Paul Sartre[3]  mit der erklärten Voraussetzung aufgewiesen:  

 

"Wenn ich Gott Vater abgeschafft habe, so muß es jemand geben, um die Werte zu schaffen. Man muß die Dinge so nehmen wie sie sind. Andererseits sagen, daß wir die Werte schaffen, heißt nichts anderes als dieses: das Leben hat keinen Sinn a priori: bevor Sie leben, ist das Leben Nichts, vielmehr obliegt es Ihnen. ihm einen Sinn zu geben, und der Wert ist nichts als dieser Sinn, den Sie wählen.“[4]

 

Aus seiner Negation einer  Transzendenzbezogenheit resultiert für  Sartre folgender Tatbestand:

 

"Einsam und voller Angst tauche ich empor gegenüber dem einzigen und ersten Entwurf, der mein Sein konstituiert. [...] bei keinem Wert habe ich und kann ich Zuflucht haben vor der Tatsache, daß ich es bin, der die Werte im Sein hält [...] ich entscheide darüber allein. Ich bin ohne Rechtfertigung". "Wir sind allein ohne Rechtfertigungen"[5], weshalb "der Existentialist erklärt [...], daß der Mensch Angst ist"[6].

 

Wenn sich die menschliche Freiheit im Verständnis von Sartre ausschließlich auf sich selbst zurückverwiesen sieht, in dieser Rückverwiesenheit aber keinen Sinnentwurf zu rechtfertigen vermag, dann bleibt die grundlegende Frage nach dem Warum und Wozu der menschlichen Freiheit überhaupt notwendigerweise unbeantwortbar. Das Einzige, was einer solchen Konzeption verbleibt, ist das bloße Daß der menschlichen Freiheit mit dem Zusatz:

"der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein"[7].

 

Ist mit Sartre das letzte Wort über den menschlichen Existenzvollzug gesprochen, wenn gesagt wird:

 

          1. daß es keine allgemeingültigen Werte gebe,

          2. daß der Mensch darum zur Freiheit verurteilt sei und 

          3. daß deshalb die menschliche Grundbefindlichkeit in der         Angst bestehe?

 

Die Stringenz solcher Folgerungen aus der Negation Gottes für das menschliche Selbstverständnis kann in dem gesetzten Rahmen unserer Überlegungen unerörtert bleiben, nicht aber deren Voraussetzung. Die Voraussetzung der erklärten Negation Gottes von Sartre demonstriert jedoch geradezu die Bedeutsamkeit der Gottesfrage für die Wesensbestimmtheit des Menschen.

 

7.

Die konstitutive Bedeutung

der welt-transzendenten Interpersonal-Relation

 

Der  Gottesfrage muß in der abendländischen Geistesgeschiche bis herauf in die Philosophie der Gegenwart - wie aus unserer Verweisung auf Sartre ersichtlich wird - eine entscheidende Bedeutung zugesprochen werden. Wie muß die Frage nach dem Absoluten in einer erkenntnis-kritischen philosophischen Reflexion beantwortet werden?

 

Mit der gestellten Frage nach einer nicht dogmatischen, sondern erkenntis-kritischen Entscheidung der Gottesfrage sehen wir uns auf den  sogenannten  'ontologischen Gottesbeweis'[8] von Anselm von Canterbury bzw. Aosta (1033-1109) verwiesen.

 

Die Erörterung der Gottesfrage, in welcher der religiöse Glaube nur eine regulative Bedeutung für die Fragestellung besitzt, wird von Anselm auf das reine Denken mit dem unmittelbar verfügba­ren Kriterium der Denknotwendigkeit zurückgenommen. - Dies bedeutet: 

 

Aus der wissenschafts-theoretischen Konzeption des 'onto-logischen Gottesbeweises' resultiert  ein Zweifaches:

 

          1. der prinzipielle Zugang zur Argumentation für jedes    rationale Denken und

          2. die Allgemeingültigkeit  der Reflexionsergebnisse.

Die Argumentationsschritte gründen ausschließlich im Sein des Bewußtseins und der Explikation des Denkens Gottes. Anselm formuliert dieses Denken des Absoluten in seinem Proslogion als unum argumentum:

 

Deus est aliquid

quo nihil maius cogitari possit.[9]

Gott ist etwas,

worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann.

 

Die Explikation des unum argumentum des ontologischen Gottesbeweises erfolgt in drei Argumentations-Schritten[10]:

 

Der erste Schritt

erweist die Wirklichkeit des Absoluten.

 

Der zweite Schritt

erweist die Undenkbarkeit des Nichtseins des Absoluten.

 

Der dritte Schritt

erweist die Unbegreiflichkeit des Absoluten.

 

So gewiß dieser Dreischritt der Explikation des Denkens über Gott als absolute Wirklichkeit im Medium reinen Denkens aufgrund des Kriteriums der Denknotwendigkeit erfolgt, so gewiß muß dem Reflexionsergebnis eine apodiktische, d.h. zweifelsfreie Gewißheit zuerkannt werden.

 

Aus der Denknotwendigkeit der Wirklichkkeit Gottes resultiert  für die  menschliche Wesensbestimmtheit folgender Sachverhalt:

 

1. Das Sein Gottes muß als denknotwendige Ermöglichungs-bedingung des Seins der menschlichen Freiheit gedacht werden.

 

2. Ein durch das Absolute gesetztes Sollen muß als apriorisches  Sollen gedacht werden.

 

3. In der Realisation absoluten Sollens liegt der Sinn des menschlichen Existenzvollzugs beschlossen, der jeder Relativierung entzogen ist.

 

8.

Der christliche Anspruch einer Menschwerdung Gottes

 

Der zentrale Anspruch der christlichen Religion der Mensch­werdung Gottes, einer Inkarnation des Absoluten, wird von Anselm in seinem letzten Hauptwerk mit derselben wissenschafts-theoretischen Konzeption angegangen, womit er zuvor die Frage nach der Wirklichkeit des Absoluten erörtert hatte.

 

Die Vorrede des Werkes Cur deus homo - 'Warum ist Gott Mensch geworden' - äußert sich unmißverständlich über die Voraussetzung und die methodische Verfahrensweise der Problemerörterung:

 

1.     Unter wissenschafts-theoretischen Aspekten wird erklärt: "Mit Beiseitesetzung Christi, so, als ob niemals etwas von ihm  gewesen wäre, beweist es mit zwingenden Gründen."[11]

 

2.     Unter sach-problematischen Aspekten wird erklärt: „Daß es notwendig sei, daß das mit dem Menschen sich vollziehe, um dessentwillen er geschaffen wurde", daß dies aber nur möglich werde "durch einen menschgewordenen Gott"[12].

 

Mit der angezeigten wissenschafts-theoretischen Konzeption wird jegliche Berufung auf Erfahrung als Argumentationsbasis expressis verbis ausgeklammert. Die Frage nach der Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes kann daher in einer philosophischen Argumentation nicht beantwortet werden durch den religiösen Glauben, der in einem historischen Faktum und dessen Rezeptionsgeschichte gründet.

 

In der von Anselm angestrengten Erörterung des christlichen  Anspruches einer Inkarnation des Absoluten sieht sich das Denken ausschließlich auf sich selbst zurückverwiesen. - Mit welchen Argumenten wird die Notwendigkeit einer Inkarnation des Absoluten aufgewiesen?

 

Die beiden grundlegenden Voraussetzungen liegen

 

1.     in der von Anselm (in seinem ‚ontologischen Gottes-beweis’) aufgewiesenen absoluten Wirklichkeit Gottes

     und

2.     in der Vernunftbegabtheit des Menschen, die von Anselm  folgendermaßen bestimmt wird:

 

„Der menschlichen Natur bedeutet vernünftig sein nichts anderes, als [...] das Wahre vom Nicht-Wahren, das Gute vom Nicht-Gutem, das Bessere vom weniger Guten unterscheiden zu können.“[13]

Die Realisation der Vernunftbegabtheit impliziert demnach folgenden Imperativ:

 

„Es ist also klar, daß das vernünftige Geschöpf sein ganzes Können und Wollen aufwenden muß, um sich des höchsten Gutes bewußt zu sein und es zu erkennen und zu lieben; denn es erkennt ja, daß es sein eigenes Sein dazu erhalten hat.“[14]

 

Denn:

 

„Sicherlich erweist sich [der vernünftige Geist] dadurch als wahres Abbild [der höchsten Wesenheit], als er sich ihrer bewußt werden, sie erkennen und lieben kann. Denn worin [der vernünftige Geist] größer und [der höchsten Wesenheit] ähnlicher ist, darin wird er als ihr wahres Abbild erkannt.“[15]

 

Das Bildsein des Absoluten setzt Anselm in das denkbar Größte des menschlichen Geistes und damit in das dem Absoluten Ähnlichste: in das Bewußtsein mit seinem Vermögen zur Erkenntnis und Liebe.

 

Muß die Erkenntnis als Dimensionalität geistigen Seins überhaupt gedacht werden und Liebe als dessen eigentlichstes Artikulations- und Realisationsvermögen, dann kann das Absolute – unter material-inhaltlichen Aspekten – nur gedacht werden als absolute Liebe.

 

Daß es sich bei der Konzeption des Absoluten als absoluter Liebe nicht um eine variable Bestimmung oder gar um eine willkürliche Festsetzung handelt, dies ist so gewiß, als Liebe fraglos sein  soll; denn ohne Zweifel kann Liebe nur gedacht werden als sich in ihrem Sein-Sollen fraglos selbst begründend. Diesen Modus fragloser Selbstbegründung kann niemand infrage stellen, der wahre Liebe erfährt oder jemals erfahren hat.

 

Das für das menschliche Bewußtsein konstitutive absolute Sollen transformiert sich als Sein-Sollen wechselseitiger Liebe von einem Imperativ zur unmittelbaren Einsicht in die Eröffnung einer sich fraglos selbst begründeten Sinn-Realisation des menschlichen Daseins und zwar in zwei Dimensionen:

 

1.     als ganzheitliche Erwiderung der Sinn-stiftenden Liebe des Absoluten in der Vertikalen

     und

2.     als Realisation interpersonaler Liebe in der Horizontalen.

 

Was würde es jedoch bedeuten, wenn die Eröffnung der absoluten Sinn-Stiftung vonseiten der menschlichen Freiheit nicht ergriffen würde: in der Vertikalen als Erwiderung der Liebe des Absoluten und in der Horizontalen als Verwirklichung der Liebe im interpersonalen Nexus?

 

Bestünde die Verfehlung der Sinnrealisation in einer absoluten Verkehrung des apriorisch Gesollten, würde also in einer irreversiblen Grundentscheidung der Haß an die Stelle interpersonaler Liebe treten und zum Grundprinzip des menschlichen  Daseins erhoben, dann wäre die Frage nach der Notwendigkeit einer Inkarnation des Absoluten  –  die Frage  „Cur deus homo“ – gegen standslos (einer absoluten Negation gegenüber müßte selbst ein ‚Gott’ als ‚machtlos’ gelten).

 

Anselms grundlegende Argumentation hat demnach eine zweifache Voraussetzung:

 

1.     Die Möglichkeit einer Wiedereröffnung der Sinn-Realisation des menschlichen Daseins durch ein Inkarnations-Geschehen setzt voraus, daß eine Verfehlung der menschlichen Freiheit nicht auf einer irreversiblen, sondern auf einer reversiblen Grundentscheidung beruht.

 

2.     Die Notwendigkeit einer Wiedereröffnung der Sinn-Realisation der menschlichen Freiheit gründet in der Unmöglichkeit, nicht von der Sinnhaftigkeit der Schöpfung   ausgehen zu müssen:

 

Gott „blieb, als er den Menschen  schuf, nicht verborgen, was dieser tun würde, und dennoch hat er sich, indem er ihn aus seiner Güte heraus schuf, gleichsam verpflichtet, das begonnene Werk zu vollenden.“[16]

 

Aufgrund einer Verfehlung der Sinn-Realisation kann demnach eine antizipierte ‚Vollendung’ nur gedacht werden unter der Voraussetzung einer ‚Wiederherstellung des Menschen’[17]. Wie müßte eine Wiederherstellung des Menschen gedacht werden?

 

Anselms Antwort:

 

Der Mensch müßte „aus seinem Eigenen Gott etwas geben können, das [...] größer ist als alles, was Gott nicht ist“[18], nämlich eine schuldlose Gegenliebe als Erwiderung der Liebe Gottes.

Daraus ergibt sich eine Antithetik – ein Widerstreit von Sachverhalten, der von Anselm klar und eindeutig formuliert wird:

 

1. So gewiß der Mensch die Verfehlung seiner Sinn-Realisation selbst verschuldet hat, so gewiß muß die Satisfaktion für seine Schuld vom Menschen selbst erbracht werden: „Es darf die Genugtuung niemand leisten außer dem Menschen. Sonst leistete nicht der Mensch Genugtuung“ [19] für seine Schuld.

 

2. Da der Mensch aufgrund seiner Verfehlung eine absolut schuldlose Liebe nicht mehr zu erbringen vermag, kann eine Satisfaktion – die Genugtuung für die Schuld des Menschen nur von Gott erbracht werden: „diese Genugtuug kann nur Gott leisten“.[20]

 

Die Problematik des wechselseitigen Ausschlusses beider Notwendigkeiten läßt sich nur dadurch lösen, daß die Genugtuung sowohl von Gott als auch vom Menschen erbracht wird:

 

Wenn also die Genugtuung, „einerseits nur Gott leisten kann, und andererseits der Mensch leisten muß, dann  ist es notwendig, daß sie ein Gott-Mensch leiste“.[21] – Dieses Reflexionsergebnis seiner grundlegenden Argumentation zur Frage der Notwendigkeit einer Inkarnation Gottes wird in folgender Weise präzisiert:

 

„Damit also ein Gott-Mensch [die Genugtuung] leiste, ist es notwendig, daß ein und derselbe, der die Genugtuung leisten soll, vollkommener Gott und vollkommener Mensch sei; denn sie kann nur ein wahrer Gott und  darf  nur ein wahrer Mensch leisten.“[22]

 

Diese Argumention vermag m.E. Anselms Intention einlösen, die Notwendigkeit einer Inkarnation als Menschwerdung Gottes im Medium reinen Denkens aufzuweisen und zwar unter der Voraussetzung einer schuldhaften Verfehlung der Sinn-Realisation des menschlichen Daseins.

 

Die wissenschafts-theoretische und insbesondere die existentielle Bedeutsamkeit von Anselms Erkenntnisbemühen in der Frage nach Gott und dem Menschen für das menschliche Selbstverständnis dürfte aufgrund seiner radikalen Fragestellung, seiner methodischen Verfahrensweise  und der Gewichtigkeit der Sachproblematik jedem unmittelbar einsichtig sein, der sich auf die Sinnfrage einläßt.

 

Adolf Anselm Schurr

 

UEBERSICHT

Das Selbstverständnis des Menschen

Philosophische Überlegungen zum christlichen Menschenbild

 

1.

Der Anspruch der christlichen Religion

 

2.

Präzisierung der Problemstellung

 

3.

Der Begriff der Philosophie

 

4.

Das  Selbstverständnis des Menschen

 

5.

Die konstitutive Bedeutung

der welt-immanenten Interpersonal-Relation

 

6.

Das Grundsein der menschlichen Freiheit

 

7.

Die konstitutive Bedeutung

der welt-transzendenten Interpersonal-Relation

 

8.

Der christliche Anspruch einer Menschwerdung Gottes

 

Bibliographische Notizen:

Adolf Anselm Schurr lehrte Philosphie an der Theologischen Fakultät der Universität Regensburg/Deutschland. Er gehört zur Tranzendentalen Philosophie Münchner Schule..., die von Reinhardt Lauth gegründet ist. A. Schurr ist seit einigen Jahren emeritiert, aber gibt weiterhin Gastvorlesungen in Deutschland und Italien...

(AGW Dezember 2004/Januar 2005)
 

[1] Siehe dazu A. Schurr: Eine Einführung in die Philosophie. Existentielle und wissenschaftstheoretische Relevanz erkenntnis-kritischen Philosophierens, problemata frommann-holzboog 68, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977.

[2] Johann  Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. In: Johann Gottlieb Fichte's Sämmtliche Werke,  hrsg. v. J. H. Fichte, Bd. 3, 39.

[3] Siehe dazu: Ghanem-George Hana: Freiheit und Person. Eine Auseinandersetzung mit der Darstellung Jean-Paul Sartres, München 1965.

[4] Jean-Paul Sartre: mais si j’ai supprimé Dieu le père, il faut bien quelqu’un pour inventer les valeurs. Il faut prendre les choses comme elles sont. Et par ailleurs dire que nous inventons les valeurs  ne signifie pas autre chose que ceci: la vie n’a pas de sens, a priori. Avant que vous ne viviez, la vie, elle, n’est rien, mais c’est à vous de lui donner un sens, e la valeur n’est pas autre chose que ce sens que vous choisissez. In: L’etre et le néant, Paris 1943, p. 89.

 

[5]  Jean-Paul Sartre: J’émerge seul et dans l’angoisse en face du projet unique et premier qui constitue mon etre, […] je n’ai ni ne puis avoir recurs à aucune valeur contre le fait que c’est moi qui maintiens à l’etre les valeurs […] j’en décide, seul, injustifiable et sans excuse. In: L’etre et le néant, Paris 1943, p. 77.

[6] Jean-Paul Sartre: l’existentialiste déclare […] que l’homme est angoisse. In: L’Existentialisme est un humanisme, Paris 1946, p.27.

[7] Jean-Paul Sartre: L'homme est condamné à etre libre In: L’Existentialisme est un humanisme, Paris 1946, p. 37.

[8] Siehe dazu A. Schurr: Die Begründung der Philosophie durch Anselm von Canterbury. Eine Erörterung des ontologischen Gottesbeweises, Stuttgart 1966.

[9] Anselm von Canterbury Proslogion, cap. 2.

[10] Anselm von Canterbury Proslogion, cap. 2, 3, 15.

[11] Anselm von Canterbury: Cur deus homo. Praefatio: remoto Christo, quasi numquam aliquid fuerit de illo, probat rationibus necessariis.

[12] Anselm von Canterbury: Cur deus homo. Praefatio: necesse esse ut hoc fiat de homine propter quod factus est, sed non nisi per hominem-deum.

[13] Anselm von Canterbury, Monologion: rationali naturae non est aliud esse rationalem quam posse discernere […] verum a non vero, bonum a non bono, magis bonum a minus bono. (cap. 68)

[14] Anselm von Canterbury: Monologion: Clarum ergo est rationalem creaturam totum suum posse et velle ad memorandum et intelligendum et amandum summum bonum impendere debere, ad quod ipsum esse suum se cognoscit habere. (cap. 68)

[15] Anselm von Canterbury: Monologion: certe inde verius esse illius se probat imaginem, quia illius potest esse memor, illam intelligere et amare. In quo enim maior est et illi similior, in eo verior illius esse imago cognoscitur. (cap. 67)

[16] Anselm von Canterbury: Cur deus homo II :  Non enim illum [scil. deum] latuit quid homo facturus erat, cum illum fecit, et tamen bonitate sua illum creando sponte se ut perficeret inceptum bonum quasi obligavit. (cap.V)

[17] Anselm von Canterbury: Cur deus homo I : humana restauratio (cap. III)

[18] Anselm von Canterbury: Cur deus homo II: de suo poterit deo dare aliquid, quod superet […] omne quod non est deus. (cap. VI)

[19] Anselm von Canterbury: Cur deus homo II: nec facere illam [scil. satisfactionem] debet nisi homo. Alioquin non satisfacit homo.(cap. VI)

[20] Anselm von Canterbury: Cur deus homo II: Non ergo potest hanc satisfactionem facere nisi deus. (cap. VI)

[21] Anselm von Canterbury: Cur deus homo II: Quam [scil. satisfactionem] nec potest facere nisi deus nec debet nisi homo: necesse est ut eam faciat deus-homo. (cap. VI)

[22] Anselm von Canterbury: Cur deus homo II: Ut ergo hoc faciat deus-homo, necesse est eundem ipsum esse perfectum deum et perfectum hominem, qui hanc satisfactionem facturus est; quoniam eam facere nec potest nisi verus deus, nec debet nisi verus homo. (cap. VII)

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