Sind „Religionen“ vergleichbar?

Eine Problemanzeige

  Albert Franz

  1. „Religion“ - Problematik eines Begriffs

Interreligiösität hat Konjunktur. Im Kontext postmoderner Beliebigkeit gehört es beinahe zum guten Ton, wenn schon Religion, dann seine eigene sich aus dem vielfältigen Angebot des weltumspannenden Marktes religiöser Möglichkeiten zusammenzustellen. Gleichzeitig steht auf der Ebene des wissenschaftlichen Diskurses, in den Religionswissenschaften, der Religionsphilosophie, und wohl auch der Theologie, in der Regel das Gemeinsame der unterschiedlichen „religiösen“ Phänomene und Kulturen sehr viel stärker im Vordergrund als das Trennende. Zugleich aber ist dies nur eine Seite der komplexen religiösen und geistigen Gemengelage der Gegenwart. Dieser steht das viele ängstigende Phänomen des Fundamentalismus gegenüber. Hier handelt es sich bekanntlich um eine religiös geprägte Denk- und Lebensform, die sich abschottet und die jeweils anderen als minderwertig und als Gefahr empfindet - offensichtlich nicht zuletzt ein Protestsymptom gegen den postmodernen Verlust religiöser Identität, das zeigt, daß die Frage der Vergleichbarkeit, der Dialogfähigkeit und möglicherweise der Synthetisierbarkeit der Religionen alles andere als rein theoretisch bzw. eine Frage je persönlichen Geschmacks ist, geschweige denn daß sie gelöst und entschieden wäre.[1] Es geht hierbei um die individuell lebenspraktische, weit darüber hinaus aber vor allem politisch und kulturell brisante Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Zusammenlebens der sich ökonomisch unaufhaltsam immer mehr globalisierenden Menschheit. Bedeutet diese Globalisierung das Ende der traditionellen „religiösen“ Kulturen, die sich über lange Epochen unabhängig voneinander bzw. in ausdrücklicher Distanz zueinander, und nicht selten in Ablehnung und Feindschaft gegeneinander entwickelt und gehalten haben? Oder sind „die Religionen“ und ihre jeweiligen Kulturen gerade heute jener identitätsstiftende Bereich, und deshalb von neuer Attraktivität, der die technische, ökonomische und informationelle Globalisierung, die Aufhebung aller Grenzen und Unterschiede, erträglich machen kann, und zwar gerade dadurch, daß hier noch Unterschiede sein und konkret gelebt werden dürfen?

Die hier angedeuteten aktuellen Probleme lassen sich nicht lösen, indem man aus bestimmten Interessen oder Überzeugungen die eine oder andere Seite von „Religion“ stark zu machen versucht. Weder fundamentalistisches Beharren auf dem Wahrheitsanspruch einer bestimmten Religion, noch das Plädoyer für relativistischen Religionspluralismus, gar einen, der die Wahrheitsfrage um des Friedens, der Verständigung oder auch der Anschlußfähigkeit an Zeitgeistströmungen willen für obsolet erklären möchte, dürften hier wirklich sachgerecht und hilfreich sein. Ohnehin kann nur eine sehr oberflächliche, freilich weit verbreitete Sichtweise darin einen Gegensatz und somit eine wirkliche Alternative erkennen, vor die wir uns gestellt sehen. In der Sache sind sich nämlich beide Positionen sehr nahe und bedingen einander, ja sie sind geradezu spiegelbildlicher Ausdruck eines gemeinsamen Zeitgeistes, der weithin gängigen Auffassung nämlich, daß Religion und kritisches Bewußtsein, welche Religion auch immer im Spiel sein mag, jedenfalls zu unterscheiden, gar zu trennen sind bzw. sich letztlich ausschließen. Ob religiöse Überzeugung scheintolerant subjektiver Beliebigkeit überlassen bleiben soll oder ob ein Regime meint, die ihm genehme Religion mit institutionellen, staatlichen Mitteln absichern zu müssen, um sie bzw. durch sie v. a. sich selbst gegenüber kritischem Denken stabil halten zu können - in beiden Fällen wird vorausgesetzt, daß Religion nicht die Kraft und damit auch nicht das Recht hat, sich aus sich selbst, aus ihrem Wahrheitsanspruch heraus zu legitimieren.[2]

Diese fundamentale Gemeinsamkeit dürfte der Grund dafür sein, daß postmoderne Beliebigkeit und Fundamentalismus gleichzeitige Phänomene sind, nicht selten wie scheinbar zwei Seelen in einer Brust einer Gesellschaft, ja sogar Einzelner Menschen nebeneinander bestehen, aber auch daß es immer wieder zu theologischen bzw. religionsphilosophischen Kompromissversuchen kommt, weil ein anderer Weg kaum möglich, ein Kompromiss unumgänglich, am Ende aber auch durchaus naheliegend erscheint. Als geradezu klassischer Kompromissversuch ist der sogenannte „Inklusivismus“ zu verstehen, der einerseits fundamentalistischen Exklusivismus vermeiden möchte, indem er prinzipiell alle Religionen für miteinander vermittelbar und für einander offen erklärt, etwa weil sie „letztlich“ das gleiche Ziel haben, also nur unterschiedliche Wege dorthin darstellen, der andererseits aber doch am Wahrheitsanspruch der je eigenen Religion festhält, etwa indem er erklärt, diese sei letztendlich doch der beste Weg zum Ziel, oder indem er anderen Religionen zugute hält, zumindest Elemente der selbst für wahr gehaltenen Überzeugung zu enthalten.[3]

Offensichtlich ist es jedoch solchen Konstruktionen bisher weder theoretisch noch praktisch gelungen, aus dem angedeuteten Dilemma herauszukommen, ohne daß entweder die Identität und der Selbstanspruch der jeweils eigenen religiösen Überzeugung oder aber deren Vermittelbarkeit mit je anderen Positionen, Kulturen und Glaubensvollzügen, ihre Toleranz und Dialogfähigkeit, und nicht selten beides zugleich, zum Problem geworden wäre.

I. Kant war der Auffassung, daß religiöser Friede nur herstellbar sei, wenn Religionen einsehen, daß es ihnen nicht um die Erkenntnis göttlicher Wahrheit, sondern um moralische Pflichten gehe, die „als göttliche Gebote“ den Menschen nicht überfordern, weil sie ihn eher überzeugen als rein theoretischen Sätze wie der „kategorische Imperativ“.[4] Religion wird so zum pädagogischen Hilfsmittel zur Durchsetzung moralischer Prinzipien. Ein solches sogenannt aufgeklärt-kritisches Denken vergleicht somit Religionen vornehmlich unter Rücksicht der Frage, ob und wie sie es dem Menschen ermöglichen, moralisch zu leben, und kommt zu dem Schluß, daß die verschiedensten Religionen letztlich unter diesen „kritischen“ Religionsbegriff zu subsumieren sind. So scheint Religion überhaupt und scheint nicht zuletzt das Nebeneinander unterschiedlicher Religionen auch im Kontext kritisch-aufgeklärter Gesellschaften möglich und tolerierbar, ja vielleicht sogar erwünscht. Klassisch bringt dies Kant auf den Punkt, wenn er konstatiert: „...es gibt nicht verschiedene Religionen, aber wohl verschiedene Glaubensarten an göttliche Offenbarung und deren statutarische Lehren, die nicht aus der Vernunft entspringen können, d.i. verschiedene Formen der sinnlichen Vorstellungsart des göttlichen Willens, um ihm Einfluß auf die Gemüter zu verschaffen, unter denen das Christentum, soviel wir wissen, die schicklichste Form ist“.[5]

Im Gefolge dieses sich „religionskritisch“ verstehenden Impulses der Aufklärung sind wir es weithin gewohnt, die komplexe Problematik der Religionen unter dem Blickwinkel eines solchen, alle religiösen Phänomene übergreifenden Allgemeinbegriffs „Religion“ zu sehen. Dessen Sinnspitze besteht somit, jedenfalls nach gängiger, weithin selbstverständlich gewordener Auffassung, darin, als „aufgeklärter“ vor allem „kritisch“ zu unterscheiden zwischen der Religion als je subjektiver Überzeugung und deren „eigentlicher“ Funktion für das jeweilige religiöse Individuum bzw. die Gesellschaft. Die Inhalte einer Religion, deren Wahrheitsanspruch als solcher, mit dem diese auf bestimmte Fragen antworten, die Menschen ansprechen und herausfordern möchte, sind kaum mehr Gegenstand solcher Religionskritik. Es geht ihr zumindest primär um die Frage, in welchem Verhältnis die jeweilige Religion zur individuellen oder gesellschaftlichen Lebenspraxis, zur „Moralität“ steht.

Auf der Basis eines solchen Religionsverständnisses werden heute „die Religionen“ in den „Religions“-wissenschaften, in der „Religions“-philosophie und nicht zuletzt einer inter-„religiös“ orientierten Theologie zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung, zugleich aber weit darüber hinaus zur Ware auf dem globalen religiös-weltanschaulichen Markt. Doch kann im Blick auf die gegenwärtige religiöse und politische Weltlage wohl kaum behauptet werden, daß dieses Verständnis von „Religion“ ihr aufklärerisches Ziel erreicht hat bzw. auch nur auf dem Weg dorthin ist, nämlich den „ ewigen Frieden“, also gesellschaftliche Stabilität auf der Basis religiöser Toleranz herbei zu führen.[6] Angesichts der Rede vom „Kampf der Kulturen“ und des ohne seinen religiös-fundamentalistischen Hintergrund nicht wirklich verstehbaren Terrorismus liegt es vielmehr näher, wenn nicht vom Scheitern so doch davon zu sprechen, daß dieses uns mehr oder weniger geläufige Verständnis von „Religion“ kritischer Revision bedarf.[7]

In diesem Sinn soll hier die Frage gestellt werden: Ist es denn wirklich sachgerecht, so unterschiedliche Phänomene wie das Judentum, das Christentum, den Islam, den Buddhismus und den Hinduismus als „Religionen“ zu bezeichnen, sie also miteinander zu „vergleichen“, indem sie unter einen solchen, und zwar konkret unter den hier skizzierten „aufgeklärt-kritischen“ Allgemeinbegriff von „Religion“ subsumiert werden, gleichsam als handele es sich hier um individuelle Gestalten einer Art - von den unzähligen kleinen bzw. in der Geschichte längst untergegangenen „Religionen“ und „Sekten“ ganz abgesehen? Wird hier nicht zwangsläufig ein Verständnis von außen herangetragen, und zwar unabhängig davon, ob man, wie dies heute in unterschiedlicher Weiterentwicklung Kants geschieht, eine allgemeine „Religiosität“ als anthropologische Konstante versteht, die zum „Wesen“ des Menschen gehört und deshalb als sozusagen unausrottbar hinzunehmen ist, oder ob man „Religionen“ als aus welchen Beweggründen bzw. Bedingungen auch immer kulturell gewachsene, aber keineswegs anthropologisch notwendige Zeichen- und Symbolsysteme definiert, die menschlicher Kreativitiät entspringen können, aber nicht müssen?[8] Müßte uns solchen Definitionsversuchen von „Religion“ gegenüber nicht schon allein hellhörig machen, daß es kaum bestreitbar in jeder „Religion“, auch im Christentum, zumindest Stimmen gibt, die sich dagegen verwahren, den eigenen Glauben überhaupt als Religion, als Religion unter Religionen zu verstehen, also von einem solchen Allgemeinverständnis vereinnahmt zu werden?[9]

Sind also „Religionen“ letztlich gar nicht miteinander „vergleichbar“? Handelt es sich beim aufgeklärt-kritischen Allgemeinbegriff von „Religion“ um eine semantische Verirrung? Wäre dies so, dann bliebe nichts, als die unvereinbare Verschiedenheit unterschiedlicher „Religionen“ zu akzeptieren und am Ende gar nicht mehr von „Religion“ bzw. „Religionen“ zu sprechen. Solchen Überlegungen steht freilich andererseits schon faktisch entgegen, daß es die „Welt der Religionen“ gibt, und darin unbestreitbar den „interreligiösen Dialog“, und daß dieser heute gerade bei „religiösen“, und v.a. bei religiös gebildeten Menschen, nicht zuletzt bei den jeweiligen „Theologen“, höchstes Interesse findet. Abgesehen davon kann in unserer grenzenlos offenen Medienwelt kein Bereich sich auf Dauer der Kommunikation mit Anderen entziehen, sind also „religiöse“ Sonderwelten nur mehr schwer vorstellbar, ja es finden, wie die Erfahrung zeigt, gerade fundamentalistische Versuche, sich „religiös“ abzuschotten, um so größeres Interesse von außen und stellen nicht zuletzt für ihrerseits „religiös“ orientierte Andere eine besondere Heraus-Forderung dar. Offensichtlich gibt es hier doch Gemeinsamkeiten. Doch welcher Art sind diese? Was ist es, was das Interesse, die Neugier gerade an „religiösen“ Phänomenen, an fremden „Religionen“ weckt und wachhält? Läge es nicht viel mehr in der Konsequenz der aufklärerischen Religionskritik, „Religionen“ auf sich beruhen, bestenfalls als Zeugnisses einer überwundenen Vergangenheit gelten zu lassen, wo wir doch darüber aufgeklärt sind, worum es in religiösen Überzeugungen „eigentlich“ geht? Offensichtlich ist es weder mit der Religionskritik der Aufklärung getan - das Scheitern sowohl des atheistischen Marxismus als auch eines diesem nicht nur zeitlich nahestehenden Modells von säkularer als eo ipso postreligiöser Welt zeigt dies überdeutlich - noch allerdings mit der Feststellung der Unvergleichbarkeit, am Ende mit fundamentalistischem Beharren auf der Einmaligkeit und dem Wahrheitsanspruch einer konkreten „Religion“ und mit dementsprechendem Widerstand, unter einen Allgemeinbegriff subsumiert zu werden, als konkreter „Fall“ eines Allgemeinen, genannt „Religion“, zu gelten.

Auf die damit umrissene, komplexe Problematik, in welchem Sinn denn von „Religion“ bzw. „Religionen“ überhaupt gesprochen werden kann, wie, ja ob „Religionen“ überhaupt miteinander vergleichbar sind, kann hier keine umfassende Antwort gegeben werden. Im Rahmen dieser Problemanzeige soll versucht werden, auf der Basis sehr konkreter Erfahrungen aufzuzeigen, daß Verständigung und gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher „Religionen“, anders als ein „aufklärerisches“ Religionsverständnis nach Kant meint, wachsen, ja vielleicht überhaupt erst wirklich werden können, wenn die Unterschiede und ggf. Gegensätzlichkeiten gerade nicht nivelliert, sondern in aller Offenheit markiert, einander gegenübergestellt und nicht, weder von vorneherein noch als Resultat, in einen theoretischen Allgemeinbegriff von „Religion“ aufgehoben und so letztlich aufgelöst werden. Gerade indem weder ein allgemeiner Vorbegriff von „Religion“ noch ein abstrakter Wahrheitsbegriff vorausgesetzt werden, noch allerdings indem von einem abstrakten Nullpunkt scheinbarer Neutralität ausgegangen wird, sondern umgekehrt indem die konkrete Realität der involvierten „religiösen“ Überzeugungen und Wahrheitsansprüche zugelassen, in den Blick genommen und so miteinander „verglichen“ werden, soll zutage treten, was gemeint sein kann, wenn wir von „Religionen“ sprechen.

2. Buddhismus - Erfahrungen eines Christen mit einer fremden Welt

 

Diese Überlegungen gehen zurück auf Erfahrungen, die der Verfasser, selbst katholischer Theologe mit dem Schwerpunkt der Fundamentaltheologie, also der kritischen Selbstvergewisserung des christlichen Glaubens, machen konnte im Rahmen eines mehrwöchigen Aufenthaltes in einem buddhistischen Kloster in Thailand. Ziel dieses Aufenthaltes war es nicht, im Sinne eines eher gängigen interreligiösen Bewußtseins nach Übereinstimmungen zwischen Christentum und Buddhismus zu suchen, gar eine „Synthese“ beider „Religionen“ zu konstruieren.[10] Unter bewußtem Verzicht auf solche vorgefertigten Ideen wollte Verf. sich einfach und möglichst vorurteilslos, aber auch ohne seine eigene christliche und theologische Herkunft, Prägung und Überzeugung zu verleugnen, der Welt des Buddhismus konkret aussetzen, sich in sie hineinbegeben und schauen, was geschieht.

Nach einiger Suche hat Verf. das Kloster WAT PAH NANACHAT AMPHER WARIN, bei UBON RAJATHANI, einer Stadt im Nordosten Thailands gefunden. Es handelt sich um ein in der Tradition des thailändischen Theravada-Buddhismus stehendes Kloster, im letzten Jahrhundert gegründet von dem Meister Ajan Chah, dessen reformerisches Bestreben es war, sozusagen zu den Quellen des Buddhismus zurückzukehren, unter Verzicht auf alles Beiwerk den Kern, die eigentliche Intention Buddhas und sonst nichts zur Grundlage des Lebens im Kloster zu machen.[11]

Die Erfahrungen des mehrwöchigen Klosteraufenthaltes haben Verf. tief berührt und geprägt. Es war für ihn einerseits alles andere als leicht, in dieser völlig fremden Welt zurechtzukommen. Andererseits haben die Umgebung, der tägliche Lebensrhythmus und der Kontakt mit einem „Meister“, der seit mehr als zwanzig Jahren als Mönch in diesem Kloster lebt, dazu beigetragen, daß für ihn „Buddhismus“ nicht mehr nur eine fremde „Religion“ ist, die er aus Büchern kennt, sondern zur konkreten Erfahrung und bis heute zur nicht leichten, auch für seine religiöse Existenz bedeutsamen Herausforderung geworden ist.

Der für den hiesigen Zusammenhang entscheidende Gesichtspunkt ist: Der Buddhismus, wie Verf. ihn erlebt hat, ist einerseits eine für ihn, den Christen, den christlichen Theologen, durch und durch fremde, andere Welt. Die gelebte Praxis, der Alltag, die Meditation, die „religiösen“ Riten, Zeichen und Gebärden sind auch nicht entfernt vergleichbar mit entsprechenden christlichen Gegebenheiten. Jeder Vergleichsversuch erscheint bei näherem Zusehen als künstlich und oberflächlich. Dies gilt nicht weniger für die „Theorie“, für die buddhistische Auffassung vom Menschen als Wesen, dessen größte und gefährlichste Illusion die eines individuellen Selbst ist, von der Welt als durch und durch vergänglichem und deshalb leiderfülltem Zusammenhang, und schließlich von „Gott“, dem nicht weniger als dem Menschen jede Art von „Selbst“ abgesprochen wird, die über den Zusammenhang von Werden und Vergehen hinausreichen möchte (anicciam - dhukkam - annatta). So gesehen bestätigt eine solche Erfahrung und konfrontiert sehr konkret mit der Einsicht, daß Christentum und Buddhismus nicht unter einem beide verbindenden Allgemeinbegriff von „Religion“ zusammengefaßt werden können, daß das aufgeklärt-kritische Religionsverständnis hier nicht greifen zu können scheint.

Doch ist dies nur die eine Seite. Andererseits war und ist Verf. die konkrete Begegnung mit dem Buddhismus nicht Erfahrung von so völlig Fremdem, daß er diesem total verständnis- und hilflos gegenübergestanden wäre. Das schiere Gegenteil ist insofern der Fall, als gerade diese völlig fremde Welt Verf. in seinem innersten Kern als Mensch, und zwar als christlich geprägten und aus christlichen Überzeugungen lebenden Menschen, angesprochen, berührt und nicht wenig herausgefordert hat. Mit aller Vorsicht sei die Formel gewagt: Der Buddhismus hat Verf. auf völlig neue Weise mit seinen ureigensten „religiösen“ und „philosophischen“ Fragen, Vorstellungen und Überzeugungen konfrontiert, allerdings ohne als religiöse Alternative zum Christentum daherzukommen bzw. gar ähnliche Antworten zu bieten. Um das Gemeinte am vielleicht entscheidenden Punkt zu konkretisieren: Der Buddhismus stellt mit seiner Meditationstechnik, mit seinem Verständnis von Einsicht, religiöser Praxis und Erleuchtung, mit letzter Radikalität vor die Frage nach Gott, stellt den an den Gott Jesu Christi glaubenden bzw. glauben wollenden vor die Frage, ob der Ruf nach diesem Gott wirklich nicht im Leeren verhallt. Allerdings will der Buddhismus gerade Alternative hierzu bieten, sein bzw. bieten, weder im Sinne eines alternativen Gottglaubens noch im Sinne atheistischer Gottleugnung im abendländisch-religionskritischen Sinne. Verf. kann sagen, mit Hilfe des radikal gott-losen, aber keineswegs atheistischen Buddhismus seinen eigenen Glauben an Gott als personales Gegenüber, als Du, als Vater, aber auch - eher philosophisch - als letzten Seinsgrund, in seiner Nicht-Selbstverständlichkeit, als letzte Herausforderung, neu entdeckt zu haben, ohne damit den Buddhismus am Ende doch dem Christentum bzw. dem abendländischen Denken und Empfinden gegenüber abzuwerten - das Gegenteil trifft zu - , allerdings auch ohne damit nun doch im Sinne einer Art Inklusivismus den Buddhismus für die eigene Überzeugungswelt zu benutzen. Auch hier trifft das Gegenteil zu, bleibt es bei der nicht aufzulösenden Fremdheit beider Welten.

 

3. Konsequenz: Kritik einer scheinkritischen Allgemeinbegriffs von „Religion“

 

Lassen sich also Buddhismus und Christentum miteinander vergleichen oder nicht? Sind beides „Religionen“? Anhand dieser konkreten Frage soll hier abschließend, vor dem Hintergrund der kurz explizierten Erfahrungen, exemplarisch erörtert werden, ob bzw. in welchem Sinn „Religionen“ überhaupt miteinander vergleichbar sind, um so bei der Frage einen Schritt weiter zu kommen, was wir unter „Religion“ zu verstehen haben, in welchem Sinn dieser Allgemeinbegriff überhaupt verwendbar sein kann. Daß es hier mit einigen wenigen Bemerkungen sein Bewenden haben muß, liegt auf der Hand.

Verf. ist durch seine konkrete Begegnung mit dem Buddhismus klar geworden: Christentum und Buddhismus sind nicht vergleichbar als „Religionen“ in dem Sinne, daß sie sozusagen konkrete, individuelle Ausformungen der Gattung „Religion“ im Sinne Kants wären. Weder ist der Buddhismus „eigentlich“ eine Moral, noch enthält er nach eigenem Selbstverständnis so etwas wie Offenbarung. Der Buddhismus, jedenfalls von dem hier die Rede ist, lehnt es ausdrücklich sowohl ab, in irgend einer Weise an einen Gott zu glauben, ein „Glaube“ zu sein, als auch, zu einer bloßen Ethik herabgestuft, darauf reduziert zu werden. So sehr der Buddhismus auf die Praxis, auf die Ethik Wert legt und jede Art von „Metaphysik“ oder „Offenbarung“ ablehnt, so sehr betont er doch die Einsicht in die Wahrheit dessen was ist, nämlich die Erleuchtung, daß nichts ist als Werden und Vergehen, als seine eigentliche Sinnspitze.

Von daher sperrt sich dieser Buddhismus gegen den abendländisch-aufgeklärten Religionsbegriff und ist in diesem Sinn in der Tat keine „Religion“. Was sogenannt kritisch-aufgeklärtes Denken unter „Religion“ versteht, stellt sich so aber als eine Abstraktion christlichen Selbstverständnisses heraus, die nicht unkritisch von außen an andere, uns fremde Phänomene angelegt werden darf.

Was aber ist der Buddhismus dann? Was ist das Verbindende, das die Begegnung mit ihm gerade für einen Christen und christlichen Theologen so faszinierend macht, zu einer solchen religiösen, existentiellen und intellektuellen Heraus-Forderung im buchstäblichen Sinne werden läßt? Verf. ist zur Überzeugung gelangt, daß dieses Verbindende, das einen Vergleich nun doch, wenn auch in einem ganz bestimmten, und zwar völlig anderen Sinn möglich macht, gerade nicht ein aus beiden, aus Christentum und Buddhismus sozusagen herausdestillierbarer Inhalt, eine beide nun doch verbindende „Wahrheit“ ist. Was beide offensichtlich verbindet, ist vielmehr, daß es sich um zwei völlig verschiedene, und in diesem Sinn nicht vergleichbare Weisen der praktischen und theoretischen Bewältigung von Fragen handelt, die unabhängig von bzw. vorgängig zu jeder religiös-kulturellen Prägung den Menschen als Menschen beschäftigen und umtreiben. Es handelt sich hier offensichtlich um jene „Urfragen“ der Menschheit und letztlich jedes einzelnen Menschen, die kulturenübergreifend in Worte gefaßt werden können, aber nur in einer jeweils konkreten „religiösen“ Kultur beantwortet bzw. dem Menschen gemäß bewältigt werden können, die also nicht kulturbedingt, sondern Kultur stiftend und ermöglichend sind: Woher kommen wir und wohin gehen wir? Wer bin ich? Was muß ich tun, daß mein Leben gelingt? Was ist gut, was ist böse? Warum ist überhaupt etwas? Gibt es einen Sinn des Ganzen?[12]

Die Problematik des abendländisch-aufgeklärten Religionsverständnisses dürfte somit vor allem darin bestehen, daß dieses - zumindest tendenziell, wie die Geschichte seit der Aufklärung wohl gezeigt hat - nicht nur die in der Geschichte der Menschheit hervorgebrachten Antworten auf diese „Urfragen“ im „kritischen“ Sinne als „Religionen“ bezeichnet, d.h. in den Bereich des bloß Subjektiven zurückdrängt und damit dem Beliebigkeitsverdacht aussetzt, sondern letztlich die Fragen selbst für obsolet erklärt, als eine Last empfinden zu können bzw. zu müssen vermeint, die bekanntlich Kant noch als dem Menschen als Menschen ebenso unlösbar wie unabweislich, Marx aber als „aufhebbar“, Freud als wegtherapierbar und eine postmoderne „zynische Vernunft“ für ironisierbar hält.[13]

Die konkrete Begegnung mit dem Buddhismus hat Verf. die Augen neu geöffnet für die gefährlichen Illusionen einer solchen, sich für aufgeklärt haltenden „religionskritischen“ Attitude, die als solche beinahe zwangsläufig dahin tendiert, äußerlich verbleibende Vorstellungen von „Religion“ mit dem zu verwechseln, was jeweils Sache ist und somit weithin als nur dem Anscheine nach kritische vor allem ihrerseits kritischer Neubesinnung bedarf. Christentum und Buddhismus lassen sich jedenfalls nicht miteinander vergleichen bzw. vereinbaren, entsprechende Versuche bleiben allemal theoretische Konstrukte, solange und sofern man vom gemeinsamen Ausgangspunkt absieht, nämlich dem wirklichen Menschen, d. h. dem Menschen, der die Frage und Suche nach einem letzten Sinn seines Lebens nicht wegrationalisiert und den Urfragen der Menschheit nicht ausweicht. Nimmt man diesen gemeinsamen Ausgangspunkt jedoch ernst, ist die Begegnung mit der je anderen Antwort eine beglückende und bereichernde Erfahrung, auch und vielleicht gerade dann, wenn sie die eigene Überzeugungswelt in Frage stellt und zur Selbst-Kritik herausfordert.

Dies gilt dann allerdings nicht nur für ihre „Religiösität“, ihren „Glauben“ bejahende Menschen, sondern könnte durchaus auch solchen widerfahren, die sich dezidiert als areligiös bzw. religionskritisch, als im Max-Weberschen Sinne „religiös unmusikalisch“ verstehen möchten, freilich nur dann und so lange auch sie jene Urfragen zulassen und nicht scheinkritisch verdrängen. Wer hierfür offen bleibt bzw. sich neu öffnet, wird, zu welchen Antworten er auch immer kommen mag, und sei es daß er dann „Religion“ für sich um so entschiedener ablehnt, jedenfalls kaum den Schluß ziehen können, als „Aufgeklärter“ mit der Welt der „Religionen“ nichts (mehr) zu tun zu haben. Er wird vielmehr entdecken und bejahen, daß er auf seine höchst individuelle, mit anderen also unvergleichliche Weise jedenfalls dieser Welt begegnet ist, vielleicht sogar, daß er selbst noch im Modus der Distanzierung auch noch so fremd scheinende Religiosität ernst zu nehmen gelernt hat, wie dies, freilich völlig anders, auch von genuinen Buddhisten und genuinen Christen gesagt werden kann und muß, wenn sie sich wirklich begegnen. Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, daß die heute mögliche, konkrete Begegnung mit unterschiedlichen Religionen, Weltanschauungen und Ideologien dazu führt, in diesem Sinn über jeweils vorgefertigte Schemata hinaus zu kommen, einander neu achten und anerkennen zu lernen und so schließlich einer wirklich kritischen, die Wahrheitsfrage nicht ausklammernden Auseinandersetzung nicht auszuweichen.[14] Dabei wird es freilich weniger um abstrakte Geltungsansprüche als vielmehr darum gehen, ob und in welchem Sinn die den Menschen zutiefst bewegenden und beunruhigenden Fragen gestellt, zugelassen und schließlich beantwortet bzw. theoretisch und praktisch bewältigt werden. Offensichtlich bedarf insbesondere ein allzu „abendländisch“ geprägtes Verständnis von „Religion“ und ein damit zusammenhängendes Verständnis von „vergleichender Religionskritik“ kritischer Revision, soll exakt dieses nicht seinerseits angesichts der Herausforderungen der ökonomischen, politischen und kulturellen Globalisierung in mit religiös-fundamentalistischen Tendenzen vergleichbare Strömungen abdriften.

 Prof. Dr. Albert Franz

 

 Der Autor ist Professor für Theologie an der Universität Dresden, BR Deutschland


[1] Zur Religion in der Postmoderne s. Hans-Joachim Höhn: Zerstreuungen. Religion zwischen Sinnsuche und Erlebnismarkt, Düsseldorf 1998; zum Fundamentalismus: Albert Franz: Europäische Identität und Christentum, in: Bulletin Europäische Gesellschaft für katholische Theologie (ET), 3/1992, Heft 2, S. 38-51.

[2] S. hierzu: Karsten Kreutzer: Gibt es einen dritten Weg zwischen Pluralismus und Fundamentalismus? Wissenschaftstheoretische, philosophische und fundamentaltheologische Überlegungen zur Problematik von Letztbegründung und Letztgültigkeit, Marburg 1999.

[3] S. hierzu: Michael von Brück u. Jürgen Werbick (Hg.): Der einzige Weg zum Heil? Die Herausforderung des christlichen Absolutheitsanspruchs durch pluralistische Religionstheologien, Freiburg-Basel-Wien 1993; Gerhard Ludwig Müller und Massimo Serretti (Hg.): Einzigartigkeit und Universalität Jesu Christi. Im Dialog mit den Religionen, Einsiedeln-Freiburg 2001.

[4] Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten A 181,182.

[5] Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten A 45,46. Zu Kants Religionsphilosophie s.: Reiner Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin-New York 1990.

[6] Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Königsberg 1795 und 1796.

[7] Vgl. Samuel P. Huntington : Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München-Wien, 5. Aufl. 1997.

[8] Zur Problematik des Religionsbegriffs s.: Ernst Feil. Religio. Band I: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation, Göttingen 1986; Band II: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs zwischen Reformation und Rationalismus (ca. 1540-1620), Göttingen 1997; näherhin Band I, S. 16-31: Grundlinien eines neuzeitlichen Verständnisses von „Religion“.

[9] Erwähnt sei hier nur die Religionskritik der „Dialektischen Theologie“. S. hierzu Wolf Krötke: Der Mensch und die Religion nach Karl Barth, Zürich 1981.

[10] Ein solcher Ansatz liegt z.B. vor bei Lynn A. de Silva: Mit Buddha und Christus auf dem Weg, Freiburg-Basel-Wien 1998.

[11] S. dessen programmatische Schrift: Venerable Ajahn Chah: The key to liberation, Bangkok 1998.

[12] Die hier eingeführte Rede von „Urfragen der Menschheit“ geht zurück auf F.W.J. Schelling, der in seiner Spätphilosophie, seiner „Philosophie der Mythologie und der Offenbarung“ in durchaus kantkritischer Absicht feststellt: „Gerade Er, der Mensch, treibt mich zur letzten, verzweifelten Frage: Warum ist überhaupt etwas? Warum ist nicht nichts? - Daß es nun eine Wissenschaft gebe, die auf diese Fragen antworte, uns jener Verzweiflung entreiße, ist unstreitig ein dringendes, ja notwendiges Verlangen, ein Verlangen nicht dieses oder jenes Individuums, sondern der menschlichen Natur selbst.“ Schelling, Philosophie der Offenbarung I, hrsg. v. Manfred Schröter, München 1954, S. 7 (Schellings Werke, Sechster Ergänzungsband). Ebd. S. 303 bestimmt Schelling mit kritischem Blick auf seine von aufklärerischem Gedankengut geprägt Zeit das Ziel seiner Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung: „Mein Bestreben in diesen Vorträgen ist überhaupt, die mich hören, auf jene Gedanken zurückzuleiten, die man die Urgedanken der Menschheit nennen kann, die in einer kleinlichen Zeit uns abhanden gekommen und unverständlich geworden sind, die aber noch stehen werden, wenn so vieles, was sich augenblicklich als wichtig gebärdet, längst verschollen sein wird. Sie sind die wahren ewigen Gedanken, die ideae aeternae, die wie die Berge der Urzeit über die Flachheit und Alltäglichkeit einer Zeit sich erheben, in der eine Behandlung der Begriffe, die nichts weiter als eine gemein pfiffige heißen kann, für tiefe Dialektik gilt.“ Verf. dieser Problemanzeige teilt im Blick auf die Gegenwart diese Schellingsche Analyse und weiß sich gerade auch aufgrund seiner Erfahrungen mit dem Buddhismus dieser verpflichtet. S. seine Monographie: Philosophische Religion. Eine Auseinandersetzung mit den Grundlegungsproblemen der Spätphilosophie F.W.J. Schellings, Würzburg-Amsterdam 1992.

[13] S. hierzu Anton Grabner-Haider: Kritische Religionsphilosophie. Europäische und außereuropäische Kulturen, Graz-Wien-Köln 1993, v.a. S. 163-202.

[14] Zum hier angeschnitten Verhältnis von Religion, Ideologie und Weltanschauung vgl. vom Verf.: Theologie und Ideologie, in: Bulletin ET, 13. Jhg. 2002, Heft 1, S. 72-77

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