Die allmähliche Ankunft des Buddha im Westen.

Hermann Hesse, Luise Rinser und Adolf Muschg

 Dr. Christoph Gellner, Luzern

"Die geistige Welle aus Indien, die in Europa, speziell in Deutschland, seit hundert Jahren wirksam war, ist nun allgemein fühlbar und sichtbar", "die Sehnsucht Europas nach der seelischen Kultur des Ostens eklatant geworden", schreibt Hermann Hesse 1921/22 anläßlich der Neuauflage der Reden des Buddha in der Übertragung des Wiener Orientalisten Karl Eugen Neumann, mit dessen von Schopenhauer beein-flusstem Übersetzungswerk der Buddha endgültig in die deutsche Geisteswelt ein-trat[1]. "Europa beginnt an mancherlei Verfallserscheinungen zu spüren, daß die hochgetriebene Einseitigkeit seiner geistigen Kultur einer Korrektur bedarf, einer Auf-frischung vom Gegenpole her" (XII,20), fährt Hesse fort. "Sobald wir aufhören, die Lehre Buddhas rein intellektuell zu betrachten und uns mit einer gewissen Sympathie für den uralten Einheitsgedanken des Ostens zu begnügen, sobald wir Buddha als Erscheinung, als Bild, als den Erwachten, den Vollendeten zu uns sprechen lassen, finden wir, fast unabhängig vom philosophischen Gehalt und dogmatischen Kern seiner Lehre, eines der großen Menschheitsvorbilder in ihm. Wer aufmerksam auch nur eine kleine Zahl der zahllosen 'Reden' Buddhas liest, dem tönt daraus bald eine Harmonie entgegen, eine Seelenstille, ein Lächeln und Drüberstehen, eine völlig un-erschütterliche Festigkeit, aber auch unerschütterliche Güte, unendliche Duldung. Und über die Wege und Mittel, zu dieser heiligen Seelenstille zu gelangen, sind die Reden voll von Ratschlägen, von Vorschriften, von Winken." (XII,22f)

Zeitdiagnostische Spiegelungen im Raum der Literatur

Diese besondere Faszination für die Gestalt Gautama Buddhas - "der Gedanken-inhalt der Buddhalehre ist nur eine Hälfte des Werkes Buddhas, die andere", für Hesse weitaus entscheidendere, "ist sein Leben", sein "gelebtes Leben", seine "ge-leistete Arbeit" (XII,23) - dürfte nicht untypisch sein für die bis in die Romantik zurück-reichende, literarisch, wissenschaftlich und philosophisch vielfältige Buddhismus-rezeption im Westen, für die Hermann Hesse eine Kristallisationsfigur weit über den Raum der Literatur hinaus darstellt. Durch das Auftreten östlicher Weisheitslehrer im Westen seit Ende des 19. Jahrhunderts, den wachsenden Einfluß der Theosophie und die Herausbildung der ersten buddhistischen Gemeinden und Gruppen in Deutschland, Europa und Amerika seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese weitverzweigte Auseinandersetzung mit asiatischer Religiosität noch zusätzlich ver-stärkt. Einen ersten Höhepunkt erlebte die Buddhismusfaszination gerade unter Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen nach der Katastrophe des Ersten Welt-kriegs, als sich neben Hesse namhafte Autoren wie Hugo von Hofmannsthal, Theodor Lessing und Rudolf Pannwitz, Alfred Döblin, Klabund und Lion Feucht-wanger von östlicher Spiritualität und Weisheit Impulse zur Heilung Europas ver-sprachen[2]. Gerade im Raum der Literatur bildeten sich durch die Beschäftigung mit asiatischer Religion und Philosophie ganz neue geistig-spirituelle Amalgame heraus, zeitdiagnostisch aufschlußreiche westöstliche Metamorphosen des Religiösen, in denen sich die Erschütterungen der westlichen Industriemoderne unmittelbar widerspiegeln. Exemplarisch das an geistig-religiösen Krisenprozessen artikulierend, was zahlreiche ihrer Zeitgenossen an sich selber wahrnehmen, sind Schriftsteller ja mehr als andere Grenzgänger, Seismographen und Vermittler. Die Faszination buddhistischer Spiritualität im Westen wird denn auch im Spiegel der Literatur existentiell konkreter und in ihrer poetischen Anschaulichkeit lebendiger.

Hermann Hesse: Kristallisationsfigur der Fernostfaszination im Westen

Wie sehr hier individualbiographische und zeittypische Motive, die religiös-spirituelle Suche eines einzelnen mit der gesellschaftlich-kulturellen Krise der westlichen Industriezivilisation zusammenspielten, zeigt beispielhaft Leben und Werk Hermann Hesses (1877-1962)[3]. Dem Christentum durch den heillosen Moralismus seiner christlich-pietistischen Herkunft und Erziehung früh entfremdet, in den Religionen Indiens und Chinas dagegen schon früh heimisch geworden - Anregungen hierzu empfing Hesse schon in seinem der Indienmission verbundenen Calwer Elternhaus -, suchte Hermann Hesse (1877-1962) zeitlebens die Religion, die ihm entsprach: „In der frühen Jugend gelang es mir nicht, aus Trotz gegen Elterliches, innerhalb der religiös-geistigen Welt, in der ich aufwuchs, mich zu entwickeln, d.h. auf meine Art und ohne Verlust meiner Persönlichkeit ein Christ zu werden“, beschreibt Hesse seinen Weg. „Schon sehr früh wandte ich mich indischen Studien zu, auch indischen Lebensmethoden, und fand innerhalb indischer und chinesischer Bildersprache meine Religion, d.h. die, die mir in Europa zu fehlen schien.“ (GB II,52)

Dabei fiel Hesses um die Jahrhundertwende einsetzende Beschäftigung mit dem vedantischen und buddhistischen Indien, wenig später auch mit dem taoistischen China kaum zufällig zusammen mit einer breiten Wiederentdeckung alter und neuer Mystik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie nicht zuletzt seine Beziehungen zu den lebens- und kulturreformerischen Suchbewegungen auf dem Monte Verita belegen, bewegte sich Hesse damit im Strom einer weitverbreiteten Suche nach einer neuen Einheit von Rationalität und Mystik, welche abendländische Aktivität mit östlicher Selbsterkenntis und kontemplativer Versenkung verbinden sollte. Hesses Asien-begeisterung ist denn auch von Anfang an seismographischer Ausdruck eines kultur- und zivilisationskritischen Krisenbewußtseins, das im „Osten“ eine geistig-religiöse Alternative zur spirituellen Anämie des „Westens“ gefunden zu haben glaubte: „Der ganze Osten atmet Religion wie der Westen Vernunft und Technik atmet“, lautete Hesses kulturkritische Diagnose noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. "Es ist klar, daß kein Import aus Osten uns hier helfen kann, kein Zurückgehen auf Indien und China, auch kein Zurückflüchten in ein irgendwie formuliertes Kirchen-christentum." Daß aber Religion "das ist, was uns zutiefst fehlt, das ist mir nie so unerbittlich klar geworden wie unter den Völkern Asiens"[4]. Bis hin zur "Morgenland-fahrt" und zum „Glasperlenspiel", der großen religionen- und kulturenübergreifenden Synthese aus östlicher und abendländischer Geistigkeit, steht so die Religiosität und Weisheit Asiens im Denken und Schreiben Hermann Hesses für eine Quelle der seelischen Erneuerung, ja, der spirituellen Erlösung von den Verstandeseinseitig-keiten der technisch-wissenschaftlichen Vernunftmoderne.

Dabei musste sich Hesse, der von sich behauptete, mit 30 Jahren Buddhist gewesen zu sein (GB II,96), erst selber von seiner europaflüchtigen Buddhismusschwärmerei der Vorkriegszeit lösen: „Meine damalige Philosophie war die eines erfolgreichen, aber müden und übersättigten Lebens, ich fasste den ganzen Buddhismus als Resig-nation und Askese auf, als Flucht in Wunschlosigkeit, und blieb Jahre lang dabei stehen.“[5] Hesse mußte erkennen, daß wir Europäer die Quelle spiritueller Erneuerung letztlich nicht in irgendeiner fremden Vergangenheit oder durch die oberflächliche Übernahme angelesener asiatischer Weisheitslehren, sondern allein „in uns selber“ finden könnten: "Mein Weg nach Indien und China ging nicht auf Schiffen und Eisenbahnen, ich mußte die magischen Brücken alle selber finden. Ich mußte aufhören, dort die Erlösung von Europa zu suchen, ich mußte aufhören, Europa im Herzen zu befeinden, ich mußte das wahre Europa und den wahren Osten mir im Herzen und im Geist zu eigen machen." Dadurch erst ver-mochte dieser christlich erzogene Europäer im "Frieden einer geistigen Welt zu leben, an der Europa und Asien, Veden und Bibel, Buddha und Goethe gleichen Teil haben" (VI, 295).

Begegnung mit dem Volksbuddhismus auf Ceylon

Ausschlaggebend dafür war zweifellos die enttäuschende Erfahrung seiner Reise nach Hinterindien (1911), die ihm zwar alle exotischen Orientklischees vor Augen geführt, ihn am Ende jedoch vom indischen Geist mehr getrennt als zugeführt hatte. Jedenfalls offenbarte sich Hesse in Asien nichts von dem, was ihn in seiner Sehn-sucht dorthin getrieben hatte, im Gegenteil: "mitten in Kandy unter den Buddha-priestern hatte ich nach dem wahren Indien, nach Indiens Geist, nach einer leben-digen Berührung mit ihm das ungestillte Heimweh wie vorher in Europa" (VI,294), lesen wir in Hesses Reisebuch „Aus Indien“ (1913). Ausgerechnet auf Ceylon, der klassischen "Insel der Buddhalehre", beim Besuch des Tempels mit der Reliquie des heiligen Buddhazahns in Kandy, einem der bedeutendsten Heiligtümer der buddisti-schen Welt, schien Hesse "der schöne, lichte Buddhismus zu einer wahren Rarität von Götzendienst gediehen", neben der "auch der spanischste Katholizismus noch geistig" (VI,278) anmutete! "Ich hatte keinerlei Achtung vor den miserablen Priestern, ich verachtete die Bilder und Schreine, das lächerliche Gold und Elfenbein, aber ich fühlte tief und mitleidend mit den guten, sanften indischen Völkern, die hier in Jahr-hunderten eine herrlich reine Lehre zur Fratze gemacht und dafür einen Riesenbau von hilfloser Gläubigkeit, von törricht herzlichen Gebeten und Opfern, von rührend irrender Menschentorheit und Kindlichkeit errichtet hatten. Den schwachen, blinden Rest der Buddhalehre, den sie in ihrer Einfalt verstehen konnten, den haben sie ver-ehrt und gepflegt, geheiligt und geschmückt, dem haben sie Opfer gebracht und kostbare Bilder errichtet - was tun dagegen wir klugen und geistigen Leute aus dem Westen, die wir dem Quell von Buddhas und von jeder Erkenntnis viel näher sind?" (VI,279)

In seiner Distanz zum volksbuddhistischen Wallfahrtsbetrieb glaubte Hesse sich der reinen Lehre jenes "Buddha, der nicht aus Stein und Kristall und Alabaster war", dem alles heilig, alles Gott war, der seinen Jüngern darum auch die Reliquien-, ja, jede Verehrung seiner Person verboten hatte, näher als die Träger der gelebten buddhisti-schen Volksreligion, in deren Tempel man sich "von allem Buddhismus loskaufen" konnte. Als reine Lehre galt Hesse, was er aus übersetzten Texten und darstellender europäischer Literatur kennenlernt hatte: einen Urbuddhismus, den man nur mehr in Büchern, kaum aber unter Menschen finden konnte. In Karl Eugen Neumanns poetischer Nachdichtung der Reden Gautamas etwa, die bewußt den Zugang zur un-verfälschten, ursprünglichen Lehre Gautamas suchte. Gerade daran läßt sich recht gut ablesen, wie stark die westliche Buddhismusrezeption um die Jahrhundertwende, gerade unter den Gebildeten, unter indologischen, ja, ideologischen Vorzeichen be-trieben wurde.

Hesses indische Dichtung "Siddhartha"

1922, auf dem Gipfel der Fernostbeigeisterung nach dem Ersten Weltkrieg, legte Hesse mit seiner indischen Dichtung "Siddhartha" die bis heute wirkungsgeschicht-lich bedeutendste Erzählung vor, die die Lebensgeschichte des historischen Siddhar-ta Gautama literarisch verabreitet, ja, in der der Buddha selber begegnet. Hesse sah darin zu Recht den Versuch, das indisch-meditative Lebensideal und die alte asiati-sche Lehre von der göttlichen Einheit aller Dinge, das Kernstück aller „östlichen“ Lebens- und Weisheitslehren, "für unsere Zeit und in unserer Sprache"[6] neu zu for-mulieren. Das Bemühen, in meditativer Versenkung zur ganzheitlichen Verbunden-heit alles Lebens vorzudringen, in einen Bereich, der alles Individuelle, alles Ich-hafte, alle Vorstellungen des Unterschiedenseins hinter sich läßt – all das macht ja bis heute die besondere Faszination östlicher Selbsterfahrungs- und Meditations-methoden wie Zen und Yoga im Westen aus. Kein Wunder, daß „Siddhartha“ unter den Hippies, Blumenkindern und Indienpilgern der 60er und 70er Jahre zu einem Kultbuch der Buddhismusfaszination im Westen wurde. Vermittelt es doch weit mehr über die spirituelle Welt des alten Indien als vergleichbare Sachbücher oder Reli-gionsgeschichten. Dazu tragen nicht zuletzt die unüberhörbaren stilistischen An-klänge an die liturgisch-litaneiartigen Lehrgespräche des Erleuchteten in der kongenialen Übertragung Karl Eugen Neumanns bei, die die legendenhafte Gleichnishaftigkeit des Romans noch zusätzlich unterstreichen.

Auch wenn Hesses Siddhartha schließlich Gautama Buddha den Rücken kehrt, gibt es dennoch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten: Wie der historische Siddhar-tha Gautama wendet sich auch Hesses fiktiver Brahmanensohn, gegen den Wunsch seiner Eltern, vom überkommenen vedisch-brahmanischen Traditionalismus, Ritua-lismus und Klerikalismus ab, um sich dem spirituellen Aufbruch der Samanas an-zuschließen. Als besitz- und kastenloser Bettelmönch zieht auch Hesses Siddhartha zusammen mit seinem Freund Govinda „aus dem Haus in die Hauslosigkeit“, um die Erleuchtung zu finden, wie er es aus den heiligen Büchern und den Reden der gelehrten Brahmanen gelernt hatte, ohne dies freilich jemals selbst erfahren zu haben. Wie der historische Buddha Gautama unterwirft sich auch Hesses Siddhartha drei Jahre lang der strengsten Askese und der härtesten Kasteiung. Er wird ein Waldeinsiedler und lernt seinen Körper durch den Geist zu beherrschen. Er lernt Hunger und Durst, Schmerz und Müdigkeit durch Yoga und Meditation zu über-winden, muß am Ende jedoch feststellen, daß alle diese Fasten-, Atem- und Versen-kungsübungen wenig anderes als Fluchtbewegungen waren, Kunstfertigkeiten der Selbsttäuschung und der Betäubung. Auch Religion, so mußte er erkennen, konnte eine egoistische Besessenheit sein, eine Abhängigkeit von Riten und Ritualen, die den Meditierenden versklaven anstatt ihn zu befreien.

Gerade darum kehrt Hesses Siddhartha schließlich auch dem Heils- und Erlösungs-weg Gautamas den Rücken. Denn auch in dem vom Buddha gelehrten „edlen acht-fachen Pfad der Weisheit“ vermochte Siddharta letztlich nur eine Flucht vor dem wahren Selbst zu erkennen: „Wäre ich nun einer deiner Jünger“, hält Siddhartha bei seiner Begegung mit dem Erhabenen dem Buddha entgegen, „so fürchte ich, es möchte mir geschehen, daß nur scheinbar, nur trügerisch mein Ich zur Ruhe käme und erlöst würde, daß es aber in Wahrheit weiterlebte und groß würde, denn ich hätte dann die Lehre, hätte meine Nachfolge, hätte meine Liebe zu dir, hätte die Gemeinschaft der Mönche zu meinem Ich gemacht!“ (V,382) Nein, bei aller Ehrfurcht und Bewunderung für die bezwingende Persönlichkeit des Erleuchteten ist ihm klar geworden, daß er „alle Lehren und alle Lehrer verlassen“, jegliche Lehrer- und Schülerschaft ablehnen muß, denn „keinem wird Erlösung zuteil durch Lehre!“ Auch der Buddha sei ja zur erlösenden Weisheit nur auf dem Weg der individuellen Erfah-rung, des eigenen Erlebens gelangt: „Du hast Erleuchtung gefunden aus deinem eigenen Suchen, auf deinem eigenen Wege ... nicht ist sie dir geworden durch Lehre“, lautet Siddharthas entscheidender Einwand. “Keinem, o Ehrwürdiger, wirst du in Worten und Lehre mitteilen und sagen können, was dir geschehen ist in der Stunde deiner Erleuchtung! Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft fortsetze - nicht um eine andere, eine bessere Lehre zu suchen, denn ich weiß, es gibt keine, sondern um alle Lehren und alle Lehrer zu verlassen und allein mein Ziel zu erreichen.“ (V,381)

Das Erlebnis der Einheit

Gewiß weiß gerade auch die buddhistische Erfahrung, daß nur gelebte, nicht aber gelehrte Weisheit den Suchenden seinem Ziel näher bringt: Es nutzt nichts, sich auf die Weisheit des Buddha zu berufen, sofern man sie nur als Wort und Formel kennt. Als Lehrer vermag der Buddha letztlich nur für den „verborgenen Lehrer“ im eigenen Innern zu sensibilisieren. In Hesses "Siddhartha" ist diese Einsicht spiritueller Erfah-rung noch einmal radikalisiert und individualistisch zugespitzt. Begegnet doch in Hesses fiktivem Brahmanensohn Siddhartha dem Buddha ein moderner, europäi-scher Individualist, der aus seinem tiefen Mißtrauen gegenüber Dogmen und Institu-tionen heraus alle irgendwie formulierbaren Lehrmeinungen ablehnt. Für den Weis-heit nur auf dem Weg individueller Suche im je eigenen Erleben greifbar wird: auf einem Erfahrungsweg, den jede und jeder selbst gehen muß. Hesses Siddhartha bleibt schließlich am Fluß bei dem alten Fährmann Vasudeva, der gerade dadurch zu Siddharthas entscheidendem Lehrer wird, daß er keine Lehre hat, ihn nichts in Worten lehrt, Siddhartha vielmehr an den Fluß verweist. In der Meditation am Fluß reift in ihm allmählich die Erkenntnis, was eigentlich Weisheit und das Ziel seines langen Suchens sei: Es war nichts als "die Bereitschaft der Seele... jeden Augen-blick, mitten im Leben, den Gedanken der Einheit zu denken, die Einheit zu fühlen und einatmen zu können“ (V,454), so wie sie der vielstimmig rauschende Fluß sym-bolisiert. „Alles war eins, alles war ineinander verwoben und verknüpft, tausendfach verschlungen. Und alles zusammen, alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alles Leiden, alle Lust, alles Gute und Böse, alles zusammen war die Welt. Alles zusammen war der Fluß des Geschehens, war die Musik des Lebens.“ (V,458) Darum also geht es: Um die Grundverbundenheit mit dem Ganzen der Wirklichkeit, um die mystisch-meditative Erfahrung der Einheit alles Seienden, mit der sich für Hesse die Liebe zu allen Dingen und Wesen verbindet, eine alles durchdringende Sympathie: „Das ist es, was sie mir so lieb und verehrenswert macht: sie sind meinesgleichen. Darum kann ich sie lieben ... Die Liebe, o Govinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu sein. Die Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu ver-achten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können.“ Govin-da empfindet denn auch sogleich den Widerspruch zur weltüberwindenden Buddha-Lehre. Hatte der Erhabene nicht genau diese Liebe als „Trug“ durchschaut? Hatte er nicht davor gewarnt, „unser Herz in Liebe an Irdisches zu fesseln“, hat er nicht „Wohlwollen, Schonung, Mitleid, Duldung, nicht aber Liebe“ geboten? "Ich weiß es, Govinda", antwortet ihm Siddhartha, "da sind wir mitten ... im Streit um Worte ... Eben darum mißtraue ich den Worten so sehr", erfolgt die Antwort Siddhartas, für Hesse typisch, nicht von des Buddhas gelehrter Theorie, sondern von dessen geleb-ter Praxis her, und in der Tat dürften sich christliche Liebe und buddhistisches Mitleid zumindest in der Praxis berühren: "Ich weiß, daß ich mit Gotama einig bin. Wie sollte denn auch Er die Liebe nicht kennen. Er, der alles Menschsein in seiner Vergäng-lichkeit, in seiner Nichtigkeit erkannt hat, und dennoch die Menschen so sehr liebte, daß er ein langes, mühevolles Leben einzig darauf verwendet hat, ihnen zu helfen, sie zu lehren! Auch bei ihm, auch bei deinem großen Lehrer, ist mir ... sein Tun und Leben wichtiger als sein Reden ... Nicht im Reden, nicht im Denken sehe ich seine Größe, nur im Tun, im Leben." (V, 466f)

Luise Rinser: Mystik in Ost und West

"Die erste religiöse Ostasien-Welle", erinnert sich Luise Rinser (*1911) in ihrer Auto-biographie "Den Wolf umarmen" (1981) [7], "kam nach dem Ersten Weltkrieg. Damals schrieb Hermann Hesse sein Buddha-Buch 'Siddhartha', das einige Jahre später tiefen Eindruck auf mich machte, obgleich ich es eigentlich nicht verstand", bezeugt Luise Rinser die kaum zu unterschätzende Wirkung von Hesses "indischer Dich-tung". Die Berührung mit östlichen Religionen ist ja bis in die Gegenwart häufig ein literarisch vermitteltes Phänomen! Als "ein alter junger Weiser" sprach Hesse die damals 20jährige an. "Er hatte Erfahrungen, die ... wie ein erlösender Regen über die intellektuell verkarstete europäische Jugend kamen. Er sprach aus, wonach wir uns sehnten." (DWU 334) Die bayerische Lehrerstochter hatte damals bereits die Reden Buddhas (in der Übertragung von Karl Eugen Neumann), auch die Upanishaden und die Bhagavadgita gelesen, ja, schon in ihrer Jugend hatte sie sich "für alles inter-essiert, was aus dem Fernen Osten stammt" (SAS 87). Anfang der 30er Jahre - "die Indien-Sehnsucht lag in der Luft" (DWU 334) -, noch ehe sie Hesse und den Bud-dhismus näher kennenlernte, schrieb Luise Rinser eine später vernichtete Erzählung mit dem Titel "Auf dem Dach der Welt", in der sie eine Gruppe junger Menschen, europamüde und zivilisationsüberdrüssig, nach Indien und Tibet aufbrechen, im Himalaja eine Art Kloster gründen und ein spirituelles Leben führen liess.

Was Luise Rinser an Hesses indischer Dichtung faszinierte, ist denn auch auf-schlußreich für ihre eigene Sicht auf den Buddhismus: Hesses "Siddhartha" be-zauberte sie, weil darin "das, was ich schon früher bei Schopenhauer gefunden hatte, zu purer Poesie" geworden war: "die Idee vom allumfassenden liebenden Eins-Sein alles Lebenden. Das traf sich auch mit dem, was ich bei den deutschen Mystikern gefunden hatte: die Idee der All-Liebe. Ich verstand, was Hesse seinen Siddhartha, in den Fluß blickend, erleben läßt: das Eine Ganze, das 'Tat twam asi', das Schlüsselwort: 'Das bist du', nämlich alles: Stein und Pflanze, Tier und Mensch. Diese seine Liebes-Mystik traf mich und war mir verwandt und verband sich mir mit dem Wort von C. G. Jung vom prinzipium individuationis und der Vorstellung vom Leben als dem Pfad der Selbstfindung."[8]

Ähnlich wie der junge Hermann Hesse gegen die Enge des schwäbischen Pietismus rebbelierte, lehnte sich auch Luise Rinser schon früh gegen die Zwänge der katholi-schen Kirche in Elternhaus, Schule und Internat auf. Die Ablehnung und Ablösung von der Religion in christlicher Form begünstigte denn auch bei der im bayerisch-barocken Katholizismus Großgewordenen die Hinwendung zu asiatischer Religion und Spiritualität: "Ich, vom Christentum nicht mehr berührt, griff mit Leidenschaft nach den östlichen Lehren", berichtet sie aus den 30er Jahren. "Verstanden habe ich sie nicht, aber sie sind in mich eingesickert und haben sich mit den Grundwassern meines Wesens vereinigt." (DWU 331) Gerade ihre seit Anfang der 70er Jahre er-schienenen Tagebücher und autobiographischen Schriften, in denen Luise Rinser immer wieder Verbindungslinien von der christlich-abendländischen Mystik zum Zen-Buddhismus und zum Taoismus zieht, spiegeln ihre langjährige Beschäftigung sowohl mit der mystischen Theologie des europäischen Mittelalters als auch der östlichen Spiritualität. Von großer Bedeutung sind dabei ihre zahlreichen Reisen nach Indien, Indonesien, Süd- und Nordkorea, nach Japan und China seit Ende der 60er Jahre, kaum weniger bedeutsam ihre Begegnungen mit Lama Anagarika Govinda, Sri Aurobindo und dem Dalai Lama.

Nicht von ungefähr kommt Luise Rinser in ihren Tagebuchnotaten immer wieder auf ein Thema zu sprechen, das sie seit ihrer Jugend beschäftigt, als sie mit 16 oder 17 Jahren erstmals mit Meister Eckart, Amos Comenius und Nicolaus Cusanus in Be-rührung kam: das Verständnis von Gott und Welt als Grundpolarität, als coincidentia oppositorum, das die Wirklichkeit als große Einheit aller Dinge erfahren läßt. Diese mystische Urerfahrung fand sie schließlich im chinesischen Taoismus ebenso artiku-liert wie im Hinduismus oder im Zen-Buddhismus, in der jüdischen wie in der islami-schen Mystik: "es gibt keine Gegensätze in der Welt, es gibt keine Widersprüche, wir sind es, die sie schaffen; es gibt nur Polaritäten, der Tag ist nicht Tag, wenn es keine Nacht gibt, das Leben ist nicht Leben, wenn es nicht den Tod gibt, eins ist im andern eingeschlossen, eines wird zum andern, alles wandelt sich, das Bleibende ist der Wandel. Kühn zog ich daraus den Schluß, daß auch das Gute nicht sei ohne das, was wir das Böse nennen, und daß Gott nicht sei ohne den Teufel ... Jahrzehnte später gab ich einem meiner Bücher den Titel: 'Hochzeit der Widersprüche'." (DWU 145) Charakteristisch für das Denken und Schreiben Luise Rinsers ist denn auch ein ökumenisch-universales Einheitsdenken, das, ähnlich wie das Hermann Hesses, weniger das Trennend-Dogmatische als vielmehr das Verbindend-Universale der grossen Weisheits- und Religionstraditionen von "Ost" und "West" betont. Ein religio-nen- und kulturenübergreifendes Denken in Synthesen, das zutiefst von der spiritu-ellen Erkenntnis durchdrungen ist, daß "alle Religionen auf unserem Planeten" letzt-lich in ein und derselben mystisch-meditativen Grunderfahrung wurzeln: "Sie alle haben die tiefste Tiefe gemeinsam", beschreibt Luise Rinser diesen mystischen Kern aller Religionen mit Hilfe buddhistischer Begrifflichkeit: "das Erlebnis der 'Leere', die wie das 'Nichts' erscheint, aber in Wirklichkeit die Fülle ist: das 'Alles'." (SAS 195)

Religion als Liebe zum Ganzen

"Alles ist nichts. Nichts ist alles": Dieser buddhistische Rätsel- und Lebensspruch, den ihr der Abt des südkoreanischen Klosters Bulgugsa mit auf den Weg gab - in "Kriegspielzeug" (1978) ist der Besuch dieses buddhistischen Klosters im Oktober 1975 eindringlich beschrieben (KS168ff) - zieht sich denn auch wie ein roter Faden durch Luise Rinser autobiographische Schriften. Kaum zufällig begegnet dieses Koan anläßlich des Besuchs eines alten Zen-Tempels in Kyoto auf ihrer ersten Japanreise im Mai 1981 wieder: "Das ganz große Schweigen habe ich erlebt im Zen-Tempel in Kyoto. Eigentlich habe ich davon geträumt, einem Zen-Meister zu begeg-nen, aber es gibt ja kaum mehr einen, in Nara sitzt einer, sehr alt, und er ist im Augenblick nicht im Ort. Ich begegne also keinem, nirgendwo und doch: hier im Tempel ist eine unsichtbare Gegenwart von Meistern ... in dieser Mittagsstunde sind keine Touristen da. Ich hocke mich in einen der offenen Räume auf die Bastmatte. Der Raum ist leer. Die große Schiebetür zum Garten hin ist offen ... der Schatten einer Kiefer auf einem moosüberwachsenen Felsen, über den ein Wasser rinnt. Es plätschert sanft und macht die Stille hörbar. Das ist alles. Ja, das ist ALLES. Das ist Zen. Nichts ist Alles, Leere ist Fülle." (WF 127) Diese Stille und diesen Frieden erfährt sie ein paar Tage später vor dem großen Buddha im Daibutsu-Tempel noch einmal: "Der Buddha ist nicht einfach groß, er ist riesig, aber er ist dennoch nicht zu groß für den Menschenblick, er hat eben noch Menschenmaß. Das Allzu-Große gibt sich in Menschennähe menschlich. Ein segnender Buddha. In einer katholischen Kirche würde ich mich niederknien. Numen adest. Das Göttliche ist anwesend ... Buddhismus und Christentum sind die Parallelen, die sich im Unendlichen treffen." (WF 128-131). Paradigmatisch schließlich auch die buddhistische Geschichte, mit der Luise Rinser die faszinierende Haltung des Dalai Lama illustriert, der sie im 1994 sogar für eine Woche nach Dharamsala einlud: "Es gibt eine buddhistische Geschichte: Ein Mann wünscht dringend den großen Gautama Buddha zu sehen. Sein Freund sagt: 'Den kannst du doch nicht sehen, er ist schon lange tot.' Ein Dritter sagt: 'Du kannst ihm begegnen: geh nur hinunter zum Markt, das erste alte Bettelweib, der erste räudige Hund, das ist ER.' Er hätte auch sagen können: Schau dich an, du selbst bist ER. Das ist buddhistische Mystik: Alles ist EINS. Alles ist DAS EINE." (KDS 25)

"'Alles ist Nichts, Nichts ist Alles', und alles ist unedlicher Liebe wert" (KDS 32), greift Luise Rinser den für sie so wichtigen Grundgedanken von Hesses "Siddhartha" wieder auf. Die Erfahrung, daß das, was die Wirklichkeit zutiefst bestimmt, letztlich nur als Liebe, als allesdurchdringende Sympathie beschrieben werden kann: "Das große Eine ... ich nenne es Liebe" (SAS 137). Religion ist daher für Luise Rinser "nichts anderes als Liebe zu allem und jedem, zum Ganzen, zum Sein und allem Seienden." (WH 15) Ähnlich wie Hermann Hesse erst tief in die Welt des Bud-dhismus, Hinduismus und Taoismus eintauchen mußte, ehe er sich seine eigene christliche Herkunft neu aneignen konnte, erschloß sich auch Luise Rinser durch ihre langjährige Beschäftigung mit asiatischer Religion die Bedeutung des Christlichen ganz neu: "Ich habe auf dem Umweg über die östlichen Religionen unser abend-ländisches Christentum neu verstanden", bekannte sie im Gespräch mit Karl-Josef Kuschel[9]. " Gott ist die große Sympathie, die alles zusammenhält ... Gott ist nicht mehr 'da oben', sondern er ist der Gott-in-mir." Diese universelle Sympathie ist in Jesus aufgeleuchtet: "für mich ist Jesus die Verkörperung der universellen Sympathie"[10], umreißt Luise Rinser die Jesusdeutung ihres "Mirijam"-Romans (1983), die sich ihr erst über die anderen Religionen, gerade den Buddhismus erschloss. Als das "ewige Selbst in mir" ist dieser Christus für Luise Rinser "in allen Religionen zu finden", "man gibt ihm dort nur einen anderen Namen"[11]. Wenn daher "alle religiösen Menschen auf unsrer Erde ihre Religion wirklich verstehen und leben", ist Luise Rinser überzeugt, "werden wir uns eines Tages mit Notwendigkeit in einem Punkte treffen." (MWR 58)

Adolf Muschg: Japan, Zen-Buddhismus und Christentum

Wie kaum ein anderes literarisches Werk der zeitgenössischen Literatur ist das des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg (*1934) von der Begegnung mit dem Zen-Buddhismus und dem komplementaristischen Einheitsdenken Asiens geprägt. Muschg war 1962 bis 1964 Deutschlektor an der International Christian University in Tokyo, ist seither viele Male in Japan und auch in China gewesen und zählt heute zu den wichtigsten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur[12]. Zeitdiagnos-tisch aufschlußreich ist bereits sein in Japan spielender Romanerstling "Im Sommer des Hasen" (1965), der die Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre einsetzende zweite Phase der westlichen Buddhismusrezeption im 20. Jahrhundert spiegelt. Damals gab es in Europa und Amerika "leider schon so etwas wie eine Zen-Mode" (XII,37), stellte der über 80jährige Hermann Hesse anläßlich der Übersetzung des Zen-Klassikers Bi-Yän-Lu seines "japanischen" Vetters Wilhelm Gundert bedauernd fest, die bis heute von allen Zen-Übenden studiert wird. Gundert ist damit - neben Eugen Herriegel, Karlfried Graf Dürckheim und vor allem den beiden Jesuiten Hugo Enomiya Lassalle und Heinrich Dumoulin - einer der wichtigsten Vermittler des Buddhismus nach Deutschland. Stand in der westlichen Buddhismusrezeption bis in die 20er Jahre die fast ausschließlich intellektuelle Auseinandersetzung mit den buddhistischen Quellentexten des Pali-Kanons im Vordergrund, so traten nun vor allem die Meditationsschulen des Buddhismus ihren Siegeszug in Deutschland, Europa und Amerika an. Anfang der 60er Jahre erwachte ja vor allem unter den Hippies und Blumenkindern der amerikanischen Jugend- und Alternativkultur eine ganz auf meditative Praxis und Erfahrung ausgerichtete Faszination für den Zen-Buddhismus. Dazu trat ab den 70er Jahren zunehmend die Faszination für den tibetischen Buddhismus, der auf Grund der Exilsituation vieler Lamas im Westen zugänglich wurde.

Muschgs Japanroman "Im Sommer des Hasen" erzählt von sieben japanreisenden westerners mit ganz unterschiedlicher Intention und Bereitschaft zur Begegnung mit der für westliche Augen rätselhaft-faszinierenden Welt Japans. In unserem Zu-sammenhang interessiert vor allem die tragikomische Figur des Zen-Enthusiasten Adalbert Huhn, weil Muschg in ihr die modisch-oberflächliche Zenbegeisterung er-leuchtungshungriger Abendländer trefflich persifliert. Schon von der Schweiz  aus hatte Huhn mit einem Schüler des bekannten Zen-Meisters Daisetz Taitaro Suzuki Kontakt aufgenommen, der entscheidend dazu beitrug, den Geist des Zen aus seinen Klöstern in die westliche Moderne des 20. Jahrhunderts zu tragen. So war Huhn bestens in den Zen-Buddhismus eingeführt, ehe er überhaupt japanischen Boden betreten, ja, noch ehe er sich seiner harten Meditationspraxis unterzogen hatte. Die „einfachsten Dinge des Zen, Sitzen, Atmen" (SH 127), genügen ihm freilich nicht, er sucht Satori, Erleuchtung, obwohl doch gerade diese „einfachen Dinge" die Hauptsache auf dem Zen-Weg sind. Dass auch sie letztlich überflüssig sind, kann nur einer sagen, der all dies selber praktiziert und erfahren hat. Bei seiner Begegnung mit dem Abt des berühmten Zuiganji-Klosters in Matsushima weiss Huhn denn auch „dem herzlich nickenden alten Mann das Tiefste und Paradoxeste" darzu-legen. Seine angelesenen Weisheiten lässt er von einem einheimischen Dünger-fabrikanten übersetzen, der davon jedoch so gut wie nichts versteht. Am Ende lässt der Zen-Meister, nachdem er sich sehr angeregt mit dem Düngermann über dessen Lebensumstände und über Dünger unterhalten hatte, Huhn ausrichten, „He ist happy you are such a good thinking man" (SH 132). Die „schalkhaften Segnungen des Zen-Buddhismus" (SH 119), damals bereits "ein Snobismus von vorgestern" (SH 121), wie Muschgs Erzähler spöttisch anmerkt, bleiben Adalbert Huhn denn auch trotz seiner Bemühungen unzugänglich.

Ein Westler kann sich davon viel Segensreiches herausnehmen

Daß der Zen-Buddhismus, mit dem Muschg bereits während seines Studiums in Zürich in Berührung kam, als er sich nicht von ungefähr Hesses „Morgenlandfahrern" zuzählte, für ihn selber weit mehr bedeutet als nur ein poetisch reizvolles Sujet, ist schon seinem 1963 verfassten Erzählbericht „Subjekt und Objekt in Kamakura" abzulauschen, der Muschgs Begegnung mit dem damals 93jährigen Zen-Gelehrten Daisetz Suzuki in Japan literarisch verarbeitet: "Etwas aufregend Waches ist um diesen alten Mann. Wir haben das bei andern Zen-Leuten bemerkt: In wie hohem Grade Inneres Ausdruck gewordenen ist. Da hält kein Geheimnis bedeu-tungsvoll an sich, kein Zeigefinger tippt an das Glockenspiel und verdumpft seinen Klang ... Im Angesicht Suzukis kann man sich einen Begriff davon machen, wie die berühmten Zen-Meister früherer Jahrhunderte angetreten sind: strahlende Vagabun-den waren sie, großgemusterte Schälke, die ihre Lumpen wie ihre Blöße zu Markte trugen, vollständig unbekümmert, ob einer das Herz hatte, Gold hinter dem Schau-spiel zu vermuten; und diese wenigen führten sie erst recht am Narrenseil herum, bis einmal einer, stolpernd und atemlos, wie von ungefähr auf den Punkt gelangte, Er Selbst zu sein - um dann als Meister seinerseits Lumpensack und Fallstrick zu erben und lachend auf Menschenfang zu gehen." (PW 49f)

Befragt nach seiner persönlichen Affinität zum Zen-Buddhismus gab Muschg im Gespräch mit Karl-Josef Kuschel denn auch programmatisch zu verstehen, dass für ihn keine andere Religion „so klar wie der Buddhismus hinausweist über untaugliche Alternativen wie Körper - Geist, Körper - Seele, Gut und Böse, Schwarz und Weiss. Keine so sehr die Chance des Durchbruchs dieser Raster eröffnet. Keine weniger das Bedürfnis hat zu missionieren und auszugrenzen. Keine selbstverständlicher Lebenskunst, Lebensweisheit, Liebe zum Alltag, Liebe zur Kleinigkeit und Einzelheit ist."[13] Hält man sich vor Augen, was Muschg über die "protestantischen Finsternisse meiner Kindheit"[14] äußerte - über die Angstbesetztheit des Gottesbildes seiner Eltern, die Lebens- und Körperfeindlichkeit ihrer rigiden reformiert-puritanischen Erziehung, die dadurch vermittelten Schuldkomplexe, Leistungs-, Erfolgs- und Rechtfertigungs-zwänge, die leitmotivisch Muschgs Erzählwerk durchziehen -, wird zumindest nach-vollziehbar, warum er dem Christentum diese "vor allem nötige Lebenskunst" nicht mehr zutraut: "Wenn Lessing recht hat mit seinem Satz, daß man die Religionen an ihren Früchten erkennen soll, dann schmecken die des Christentums bitter - auch für die Christen selbst. 'Erlöster müßten sie aussehen, damit ich an ihren Erlöser glauben könnte' (Nietzsche). Ich wünsche mir mehr Leibhaftigkeit - die ja solange dem Teufel vorbehalten war. In Japan wäre das Spirituelle konkreter, strahlender. Man erkennt einen Zen-Meister sofort an seinem Lachen. Es ist eine Bewegung des ganzen Körpers."[15]

Damit ist das für Muschgs Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus entscheidende Stichwort gefallen: die Überwindung des das westliche Denken weithin bestimmen-den Dualismus von Subjekt und Objekt, von Kopf und Körper, von Geist und Leib, Ja und Nein. "Gegenständlich, 'objektiv' zu denken, liegt in unserer Tradition, ist eine teuer erkaufte Gewohnheit des westlichen Bewußtseins. Aber darin erschöpft sich das Repertoire des Bewußtseins glücklicherweise noch lange nicht"[16]. Im Raum der abendländischen Überlieferung müsse man auf die "Gottlosigkeit der christlichen Mystik" zurückgreifen, "um im Christentum eine vergleichbare Empfindlichkeit zu finden", weiß Adolf Muschg. Auf Angelus Silesius und vor allem auf Meister Eckhart, "dessen sogenannte 'Mystik' darin besteht, die religiöse Erfahrung vom Zwang zum Gegenständlichen zu befreien, um sie - das ist aber mehr buddhistisch als christlich - für die Liebe zu den Gegenständen wirklich frei zu machen"[17]. "Die Gottlosigkeit der christlichen Mystik war ein Wagnis. Diejenige der buddhistischen Lehre ist eine gelassene Selbstverständlichkeit. 'Gott' ist eine Hilfsvorstellung, von der sich schon der Schüler Buddhas lösen lernt. Er kennt keinen 'heiligen Namen', keinen 'Herrn Zebaoth', auch keine Stellvertreter am Kreuz. Darin sieht er - ohne Polemik - die ungedeckten Reste kindlicher Geborgenheitswünsche oder metaphysischer Sicher-heitsbedürfnisse, in einen imaginären Himmel projizierte Größen-Phantasien von Menschen, die mit ihrer Unerlöstheit nichts Besseres anzufangen wissen, als nach einem Erlöser zu schreien. Ein solcher Gott mag ehrwürdig sei wie alles Allzumenschliche. Aber mit Religion hat er noch nichts zu tun. Unsere Kultur ist in so hohem Grade auf einen 'persönlichen Gott', auf die Du-Form mit dem Erlöser geprägt, daß wir uns A-Theismus nur irreligiös vorstellen können."[18]

Wovon in den Religionen die Rede ist: SEIN

1985, gut zwanzig Jahre nach seiner Begegnung mit dem damals 93jährigen Zen-Gelehrten Daisetz Suzuki, schildert Muschg im Feuilleton der "Frankfurter Rund-schau" seine "Erfahrungen in einem japanischen Zenkloster" im Norden von Tokyo im Mai desselben Jahres. "Also wieder einer, der die Widersprüche seiner Zeit-genossenschaft nicht mehr ausgehalten hat und ins Innerliche abgeschwenkt ist"[19], läßt Muschg einen kritischen Leser ausrufen. "Aussteigen? Einsteigen!" ist denn auch sein Erfahrungsbericht pointiert überschrieben. Gewiß, eine religiöse Erleuch-tung habe er auch bei dieser "Zen-Schnupperlehre" nicht erlebt, weist Muschg gleich zu Beginn die Erwartung zurück, hier würden außergewöhnliche Erleuchtungserfah-rungen zu Protokoll gegeben: "Wenig Worte darüber, überhaupt keine Worte 'über', lieber die noch so bescheidene Tat, die sie erübrigte; das wovon in den Religionen die Rede ist, SEIN."

Im Gespräch mit Karl-Josef Kuschel hatte Muschg erklärt, er wolle "von dem Wort Religion wegkommen und es ersetzen durch das, was es bedeutet: Bindung oder auch Erfahrung des Eingebundenseins", "aus dem Zentrum, dem Schwerpunkt des Da-seins zu leben und zu arbeiten". Muschgs Zen-Kloster-Aufsatz macht denn auch eindringlich die Faszination der offensichtlich ganz "anderen" Spiritualität und Religiosität des Buddhismus im Westen anschaulich: "Die Arbeit am Buddha in uns selbst ist bei weitem anspruchsvoller und radikaler als jeder Dienst, der unter Druck von außen und oben geleistet wird. Ich empfand sie aber auch als nachbarlich subtiler, menschlich einfallsreicher, sorgfältiger als jede Art Dienst an einem persönlichen, in der Du-Form gedachten und angesprochenen Gott, wie er einem im westlichen Christentum begegnet. Denn im Zen-Kloster gibt es wohl das gemeinschaftliche Sutra-Lesen, das Händefalten nicht nur zum Tischgebet, sondern auch beim Empfang jeder einzelnen Speise, es gibt natürlich die Erfahrungen, die wir auf unserer Seite der Welt 'religiös' zu nennen pflegen. Aber es gibt ausdrücklich keinen Gottesdienst, sowenig wie es einen Sonntag und Werktag gibt. Arbeitstag und Feiertag sind ebenso dasselbe wie Meditation und Arbeit. Wenn Beten und Essen, Zähneputzen und Betteln, Reden und Nicht-Reden nicht aus einem Geist geschehen, geschieht keins von beiden recht. Muß man Religion nennen, was nichts anderes ist als höchste Lebensart, Aufmerksamkeit für den Nächsten und für das Nächste, Anwesenheit dessen, was ich bin, in dem, was ich tue, nicht morgen, nicht jenseits, sondern hier und jetzt? Ich habe im Kloster erlebt, daß Leben mit sich eins sein kann, und mit seinem scheinbaren Gegenteil, dem Tod; und daß es, wenn alles gleich gültig ist, nichts Gleichgültiges mehr gibt. Das ist etwas mehr, als ich bisher in der Politik oder in der Literatur, im Gespräch oder in der Liebe gelernt habe. Ist dazu ein Leben im Zen-Kloster nötig? Bei mir war es nötig: als Erfahrung, daß das Selbstverständliche schwer ist, aber möglich. 'Der gleiche Wind weht überall', steht auf der Kalligraphie, die mir der Meister mitgegeben hat. Ja, wenn wir nur die Nase haben, um die wir uns diesen Wind wehen lassen können: dann besteht die erste kleine Erleuchtung vielleicht darin, ihn vom eigenen Atem nicht mehr zu unterscheiden. Ein innerliches Geschäft? Ganz im Gegenteil. Und dann: warum eigentlich 'im Gegenteil'?"

Dr. Christoph Gellner, Luzern

(Dr. Christoph Gellner ist Lehrbeauftragter an der Universität Luzern, Schweiz.)
 

[1]Vgl. M. v. Brück/ W. Lai, Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontation, Dialog, München 1997, bes. 200-240; M. Baumann, "Importierte" Religionen: das Beispiel Buddhismus. In: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 - 1933. Hrsg. v. D. Kerbs u. J. Reulecke, Wuppertal 1998, 513-522; V. Zotz, Auf den glückseligen Inseln. Buddhismus in der deutschen Kultur, Berlin 2000.

[2]Vgl. C. Günther, Aufbruch nach Asien. Kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900, München 1988; I. Schuster, China und Japan in der deutschen Literatur 1890-1925. Bern 1977.

[3]C. Gellner, Weisheit, Kunst und Lebenskunst. Fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht, Mainz 1997; ders., Was Indern, Chinesen und Christen gemeinsam ist. Hesse und die Spiritualität der Weltreligionen, in: Hermann Hesses "Siddhartha". 11. Internationales Hermann-Hesse-Kolloquium in Calw 2002, hrsg. v. M. Limberg, Stuttgart 2002, 179-192. Hesses Schriften werden abgekürzt zitiert nach der 12bändigen Ausgabe der Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1970; Gesammelte Briefe 4 Bde., Frankfurt/M. 1973-1986 (=GB).

[4]H. Hesse, Aus Indien. Aufzeichnungen, Tagebücher, Gedichte, Betrachtungen und Erzählungen, Frankfurt/M. 1980, 203f.

[5]A.a.O., 260.

[6]V. Michels (Hrsg.), Materialien zu Hermann Hesses "Siddhartha". Bd. 1, Frankfurt/M. 1985, 203.

[7]K.-J. Kuschel, Luise Rinser - Religiöse Häutungen einer Schriftstellerin. In: Luise Rinser. Materialien zu Leben und Werk, hrsg. v. H.-R. Schwab, Frankfurt/M. 1986, 203-214; S. Polat, Luise Rinsers Weg zur mystischen Religiosität. Glaube erwachsen aus Erfahrung, Münster 2001. Luise Rinsers Schriften werden abgekürzt zitiert: Den Wolf umarmen. Frankfurt/M. 1981 (DWU); Saturn auf der Sonne. Frankfurt/M. 1994 (SAS); Kriegsspielzeug. Tagebuch 1972 bis 1978, Taschenbuchausgabe Frankfurt/M. 1980 (KS); Winterfrühling 1979-1982. Frankfurt/M. 1982 (WF). Im Dunkeln singen 1982 bis 1985. Frankfurt/M. 1985 (IDS); Wir Heimatlosen 1989-1992, Taschenbuchausgabe Frankfurt/M. 1995 (WH); Kunst des Schattenspiels 1994-1997, Frankfurt/M. 1997 (KDS); Mit wem reden. Frankfurt/M. 1980 (MWR).

[8]L. Rinser, Hermann Hesse und die fernöstliche Philosophie. In: Hermann Hesse und die Religion. 6. Internationales Hermann-Hesse-Kolloquium in Calw 1990, hrsg. v. F. Bran u. M. Pfeifer, Bad Lieben-zell 1990, 17-31, Zitat 20.