Die
allmähliche Ankunft des Buddha im Westen.
Hermann Hesse, Luise Rinser und
Adolf Muschg
Dr.
Christoph Gellner, Luzern
"Die
geistige Welle aus Indien, die in Europa, speziell in Deutschland, seit
hundert Jahren wirksam war, ist nun allgemein fühlbar und sichtbar", "die
Sehnsucht Europas nach der seelischen Kultur des Ostens eklatant
geworden", schreibt Hermann Hesse 1921/22 anläßlich der Neuauflage der
Reden des Buddha in der Übertragung des Wiener Orientalisten Karl Eugen
Neumann, mit dessen von Schopenhauer beein-flusstem Übersetzungswerk der
Buddha endgültig in die deutsche Geisteswelt ein-trat.
"Europa beginnt an mancherlei Verfallserscheinungen zu spüren, daß die
hochgetriebene Einseitigkeit seiner geistigen Kultur einer Korrektur
bedarf, einer Auf-frischung vom Gegenpole her" (XII,20), fährt Hesse fort.
"Sobald wir aufhören, die Lehre Buddhas rein intellektuell zu betrachten
und uns mit einer gewissen Sympathie für den uralten Einheitsgedanken des
Ostens zu begnügen, sobald wir Buddha als Erscheinung, als Bild, als den
Erwachten, den Vollendeten zu uns sprechen lassen, finden wir, fast
unabhängig vom philosophischen Gehalt und dogmatischen Kern seiner Lehre,
eines der großen Menschheitsvorbilder in ihm. Wer aufmerksam auch nur eine
kleine Zahl der zahllosen 'Reden' Buddhas liest, dem tönt daraus bald eine
Harmonie entgegen, eine Seelenstille, ein Lächeln und Drüberstehen, eine
völlig un-erschütterliche Festigkeit, aber auch unerschütterliche Güte,
unendliche Duldung. Und über die Wege und Mittel, zu dieser heiligen
Seelenstille zu gelangen, sind die Reden voll von Ratschlägen, von
Vorschriften, von Winken." (XII,22f)
Zeitdiagnostische Spiegelungen im Raum der Literatur
Diese
besondere Faszination für die Gestalt Gautama Buddhas - "der
Gedanken-inhalt der Buddhalehre ist nur eine Hälfte des Werkes Buddhas,
die andere", für Hesse weitaus entscheidendere, "ist sein Leben", sein
"gelebtes Leben", seine "ge-leistete Arbeit" (XII,23) - dürfte nicht
untypisch sein für die bis in die Romantik zurück-reichende, literarisch,
wissenschaftlich und philosophisch vielfältige Buddhismus-rezeption im
Westen, für die Hermann Hesse eine Kristallisationsfigur weit über den
Raum der Literatur hinaus darstellt. Durch das Auftreten östlicher
Weisheitslehrer im Westen seit Ende des 19. Jahrhunderts, den wachsenden
Einfluß der Theosophie und die Herausbildung der ersten buddhistischen
Gemeinden und Gruppen in Deutschland, Europa und Amerika seit Beginn des
20. Jahrhunderts wurde diese weitverzweigte Auseinandersetzung mit
asiatischer Religiosität noch zusätzlich ver-stärkt. Einen ersten
Höhepunkt erlebte die Buddhismusfaszination gerade unter
Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen nach der Katastrophe des
Ersten Welt-kriegs, als sich neben Hesse namhafte Autoren wie Hugo von
Hofmannsthal, Theodor Lessing und Rudolf Pannwitz, Alfred Döblin, Klabund
und Lion Feucht-wanger von östlicher Spiritualität und Weisheit Impulse
zur Heilung Europas ver-sprachen.
Gerade im Raum der Literatur bildeten sich durch die Beschäftigung mit
asiatischer Religion und Philosophie ganz neue geistig-spirituelle
Amalgame heraus, zeitdiagnostisch aufschlußreiche westöstliche
Metamorphosen des Religiösen, in denen sich die Erschütterungen der
westlichen Industriemoderne unmittelbar widerspiegeln. Exemplarisch
das an geistig-religiösen Krisenprozessen artikulierend, was zahlreiche
ihrer Zeitgenossen an sich selber wahrnehmen, sind Schriftsteller ja mehr
als andere Grenzgänger, Seismographen und Vermittler. Die Faszination
buddhistischer Spiritualität im Westen wird denn auch im Spiegel der
Literatur existentiell konkreter und in ihrer poetischen Anschaulichkeit
lebendiger.
Hermann
Hesse: Kristallisationsfigur der Fernostfaszination im Westen
Wie sehr
hier individualbiographische und zeittypische Motive, die
religiös-spirituelle Suche eines einzelnen mit der
gesellschaftlich-kulturellen Krise der westlichen Industriezivilisation
zusammenspielten, zeigt beispielhaft Leben und Werk Hermann Hesses
(1877-1962).
Dem Christentum durch den heillosen Moralismus seiner
christlich-pietistischen Herkunft und Erziehung früh entfremdet, in den
Religionen Indiens und Chinas dagegen schon früh heimisch geworden -
Anregungen hierzu empfing Hesse schon in seinem der Indienmission
verbundenen Calwer Elternhaus -, suchte Hermann Hesse (1877-1962)
zeitlebens die Religion, die ihm entsprach: „In der frühen Jugend gelang
es mir nicht, aus Trotz gegen Elterliches, innerhalb der
religiös-geistigen Welt, in der ich aufwuchs, mich zu entwickeln, d.h. auf
meine Art und ohne Verlust meiner Persönlichkeit ein Christ zu werden“,
beschreibt Hesse seinen Weg. „Schon sehr früh wandte ich mich indischen
Studien zu, auch indischen Lebensmethoden, und fand innerhalb indischer
und chinesischer Bildersprache meine Religion, d.h. die, die mir in Europa
zu fehlen schien.“ (GB II,52)
Dabei fiel
Hesses um die Jahrhundertwende einsetzende Beschäftigung mit dem
vedantischen und buddhistischen Indien, wenig später auch mit dem
taoistischen China kaum zufällig zusammen mit einer breiten
Wiederentdeckung alter und neuer Mystik zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Wie nicht zuletzt seine Beziehungen zu den lebens- und
kulturreformerischen Suchbewegungen auf dem Monte Verita belegen, bewegte
sich Hesse damit im Strom einer weitverbreiteten Suche nach einer neuen
Einheit von Rationalität und Mystik, welche abendländische Aktivität
mit östlicher Selbsterkenntis und kontemplativer Versenkung verbinden
sollte. Hesses Asien-begeisterung ist denn auch von Anfang an
seismographischer Ausdruck eines kultur- und zivilisationskritischen
Krisenbewußtseins, das im „Osten“ eine geistig-religiöse Alternative
zur spirituellen Anämie des „Westens“ gefunden zu haben glaubte: „Der
ganze Osten atmet Religion wie der Westen Vernunft und Technik atmet“,
lautete Hesses kulturkritische Diagnose noch vor Ausbruch des Ersten
Weltkriegs. "Es ist klar, daß kein Import aus Osten uns hier helfen kann,
kein Zurückgehen auf Indien und China, auch kein Zurückflüchten in ein
irgendwie formuliertes Kirchen-christentum." Daß aber Religion "das ist,
was uns zutiefst fehlt, das ist mir nie so unerbittlich klar geworden wie
unter den Völkern Asiens".
Bis hin zur "Morgenland-fahrt" und zum „Glasperlenspiel", der großen
religionen- und kulturenübergreifenden Synthese aus östlicher und
abendländischer Geistigkeit, steht so die Religiosität und Weisheit Asiens
im Denken und Schreiben Hermann Hesses für eine Quelle der seelischen
Erneuerung, ja, der spirituellen Erlösung von den
Verstandeseinseitig-keiten der technisch-wissenschaftlichen
Vernunftmoderne.
Dabei musste
sich Hesse, der von sich behauptete, mit 30 Jahren Buddhist gewesen zu
sein (GB II,96), erst selber von seiner europaflüchtigen
Buddhismusschwärmerei der Vorkriegszeit lösen: „Meine damalige
Philosophie war die eines erfolgreichen, aber müden und übersättigten
Lebens, ich fasste den ganzen Buddhismus als Resig-nation und Askese auf,
als Flucht in Wunschlosigkeit, und blieb Jahre lang dabei stehen.“
Hesse mußte erkennen, daß wir Europäer die Quelle spiritueller Erneuerung
letztlich nicht in irgendeiner fremden Vergangenheit oder durch die
oberflächliche Übernahme angelesener asiatischer Weisheitslehren, sondern
allein „in uns selber“ finden könnten: "Mein Weg nach Indien und China
ging nicht auf Schiffen und Eisenbahnen, ich mußte die magischen Brücken
alle selber finden. Ich mußte aufhören, dort die Erlösung von Europa zu
suchen, ich mußte aufhören, Europa im Herzen zu befeinden, ich mußte das
wahre Europa und den wahren Osten mir im Herzen und im Geist zu eigen
machen." Dadurch erst ver-mochte dieser christlich erzogene Europäer im
"Frieden einer geistigen Welt zu leben, an der Europa und Asien, Veden und
Bibel, Buddha und Goethe gleichen Teil haben" (VI, 295).
Begegnung
mit dem Volksbuddhismus auf Ceylon
Ausschlaggebend dafür war zweifellos die enttäuschende Erfahrung seiner
Reise nach Hinterindien (1911), die ihm zwar alle exotischen
Orientklischees vor Augen geführt, ihn am Ende jedoch vom indischen Geist
mehr getrennt als zugeführt hatte. Jedenfalls offenbarte sich Hesse in
Asien nichts von dem, was ihn in seiner Sehn-sucht dorthin getrieben
hatte, im Gegenteil: "mitten in Kandy unter den Buddha-priestern hatte ich
nach dem wahren Indien, nach Indiens Geist, nach einer leben-digen
Berührung mit ihm das ungestillte Heimweh wie vorher in Europa" (VI,294),
lesen wir in Hesses Reisebuch „Aus Indien“ (1913). Ausgerechnet auf
Ceylon, der klassischen "Insel der Buddhalehre", beim Besuch des Tempels
mit der Reliquie des heiligen Buddhazahns in Kandy, einem der
bedeutendsten Heiligtümer der buddisti-schen Welt, schien Hesse "der
schöne, lichte Buddhismus zu einer wahren Rarität von Götzendienst
gediehen", neben der "auch der spanischste Katholizismus noch geistig"
(VI,278) anmutete! "Ich hatte keinerlei Achtung vor den miserablen
Priestern, ich verachtete die Bilder und Schreine, das lächerliche Gold
und Elfenbein, aber ich fühlte tief und mitleidend mit den guten, sanften
indischen Völkern, die hier in Jahr-hunderten eine herrlich reine Lehre
zur Fratze gemacht und dafür einen Riesenbau von hilfloser Gläubigkeit,
von törricht herzlichen Gebeten und Opfern, von rührend irrender
Menschentorheit und Kindlichkeit errichtet hatten. Den schwachen, blinden
Rest der Buddhalehre, den sie in ihrer Einfalt verstehen konnten, den
haben sie ver-ehrt und gepflegt, geheiligt und geschmückt, dem haben sie
Opfer gebracht und kostbare Bilder errichtet - was tun dagegen wir klugen
und geistigen Leute aus dem Westen, die wir dem Quell von Buddhas und von
jeder Erkenntnis viel näher sind?" (VI,279)
In seiner
Distanz zum volksbuddhistischen Wallfahrtsbetrieb glaubte Hesse sich der
reinen Lehre jenes "Buddha, der nicht aus Stein und Kristall und Alabaster
war", dem alles heilig, alles Gott war, der seinen Jüngern darum auch die
Reliquien-, ja, jede Verehrung seiner Person verboten hatte, näher als die
Träger der gelebten buddhisti-schen Volksreligion, in deren Tempel man
sich "von allem Buddhismus loskaufen" konnte. Als reine Lehre galt Hesse,
was er aus übersetzten Texten und darstellender europäischer Literatur
kennenlernt hatte: einen Urbuddhismus, den man nur mehr in Büchern, kaum
aber unter Menschen finden konnte. In Karl Eugen Neumanns poetischer
Nachdichtung der Reden Gautamas etwa, die bewußt den Zugang zur
un-verfälschten, ursprünglichen Lehre Gautamas suchte. Gerade daran läßt
sich recht gut ablesen, wie stark die westliche Buddhismusrezeption um die
Jahrhundertwende, gerade unter den Gebildeten, unter indologischen, ja,
ideologischen Vorzeichen be-trieben wurde.
Hesses
indische Dichtung "Siddhartha"
1922, auf
dem Gipfel der Fernostbeigeisterung nach dem Ersten Weltkrieg, legte Hesse
mit seiner indischen Dichtung "Siddhartha" die bis heute
wirkungsgeschicht-lich bedeutendste Erzählung vor, die die
Lebensgeschichte des historischen Siddhar-ta Gautama literarisch
verabreitet, ja, in der der Buddha selber begegnet. Hesse sah darin zu
Recht den Versuch, das indisch-meditative Lebensideal und die alte
asiati-sche Lehre von der göttlichen Einheit aller Dinge, das
Kernstück aller „östlichen“ Lebens- und Weisheitslehren, "für unsere Zeit
und in unserer Sprache"
neu zu for-mulieren. Das Bemühen, in meditativer Versenkung zur
ganzheitlichen Verbunden-heit alles Lebens vorzudringen, in einen Bereich,
der alles Individuelle, alles Ich-hafte, alle Vorstellungen des
Unterschiedenseins hinter sich läßt – all das macht ja bis heute die
besondere Faszination östlicher Selbsterfahrungs- und Meditations-methoden
wie Zen und Yoga im Westen aus. Kein Wunder, daß „Siddhartha“ unter den
Hippies, Blumenkindern und Indienpilgern der 60er und 70er Jahre zu einem
Kultbuch der Buddhismusfaszination im Westen wurde. Vermittelt es
doch weit mehr über die spirituelle Welt des alten Indien als
vergleichbare Sachbücher oder Reli-gionsgeschichten. Dazu tragen nicht
zuletzt die unüberhörbaren stilistischen An-klänge an die
liturgisch-litaneiartigen Lehrgespräche des Erleuchteten in der
kongenialen Übertragung Karl Eugen Neumanns bei, die die legendenhafte
Gleichnishaftigkeit des Romans noch zusätzlich unterstreichen.
Auch wenn
Hesses Siddhartha schließlich Gautama Buddha den Rücken kehrt,
gibt es dennoch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten: Wie der
historische Siddhar-tha Gautama wendet sich auch Hesses fiktiver
Brahmanensohn, gegen den Wunsch seiner Eltern, vom überkommenen
vedisch-brahmanischen Traditionalismus, Ritua-lismus und Klerikalismus ab,
um sich dem spirituellen Aufbruch der Samanas an-zuschließen. Als
besitz- und kastenloser Bettelmönch zieht auch Hesses Siddhartha zusammen
mit seinem Freund Govinda „aus dem Haus in die Hauslosigkeit“, um die
Erleuchtung zu finden, wie er es aus den heiligen Büchern und den Reden
der gelehrten Brahmanen gelernt hatte, ohne dies freilich jemals selbst
erfahren zu haben. Wie der historische Buddha Gautama unterwirft sich
auch Hesses Siddhartha drei Jahre lang der strengsten Askese und der
härtesten Kasteiung. Er wird ein Waldeinsiedler und lernt seinen Körper
durch den Geist zu beherrschen. Er lernt Hunger und Durst, Schmerz und
Müdigkeit durch Yoga und Meditation zu über-winden, muß am Ende jedoch
feststellen, daß alle diese Fasten-, Atem- und Versen-kungsübungen wenig
anderes als Fluchtbewegungen waren, Kunstfertigkeiten der Selbsttäuschung
und der Betäubung. Auch Religion, so mußte er erkennen, konnte eine
egoistische Besessenheit sein, eine Abhängigkeit von Riten und Ritualen,
die den Meditierenden versklaven anstatt ihn zu befreien.
Gerade darum kehrt Hesses
Siddhartha schließlich auch dem Heils- und Erlösungs-weg Gautamas den
Rücken. Denn auch in dem vom Buddha gelehrten „edlen acht-fachen Pfad der
Weisheit“ vermochte Siddharta letztlich nur eine Flucht vor dem wahren
Selbst zu erkennen: „Wäre ich nun einer deiner Jünger“, hält Siddhartha
bei seiner Begegung mit dem Erhabenen dem Buddha entgegen, „so fürchte
ich, es möchte mir geschehen, daß nur scheinbar, nur trügerisch mein Ich
zur Ruhe käme und erlöst würde, daß es aber in Wahrheit weiterlebte und
groß würde, denn ich hätte dann die Lehre, hätte meine Nachfolge, hätte
meine Liebe zu dir, hätte die Gemeinschaft der Mönche zu meinem Ich
gemacht!“ (V,382) Nein, bei aller Ehrfurcht und Bewunderung für die
bezwingende Persönlichkeit des Erleuchteten ist ihm klar geworden, daß er
„alle Lehren und alle Lehrer verlassen“, jegliche Lehrer- und
Schülerschaft ablehnen muß, denn „keinem wird Erlösung zuteil durch
Lehre!“ Auch der Buddha sei ja zur erlösenden Weisheit nur auf dem Weg der
individuellen Erfah-rung, des eigenen Erlebens gelangt: „Du hast
Erleuchtung gefunden aus deinem eigenen Suchen, auf deinem eigenen Wege
... nicht ist sie dir geworden durch Lehre“, lautet Siddharthas
entscheidender Einwand. “Keinem, o Ehrwürdiger, wirst du in Worten und
Lehre mitteilen und sagen können, was dir geschehen ist in der Stunde
deiner Erleuchtung! Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft fortsetze
- nicht um eine andere, eine bessere Lehre zu suchen, denn ich weiß, es
gibt keine, sondern um alle Lehren und alle Lehrer zu verlassen und allein
mein Ziel zu erreichen.“ (V,381)
Das Erlebnis
der Einheit
Gewiß weiß
gerade auch die buddhistische Erfahrung, daß nur gelebte, nicht aber
gelehrte Weisheit den Suchenden seinem Ziel näher bringt: Es nutzt nichts,
sich auf die Weisheit des Buddha zu berufen, sofern man sie nur als Wort
und Formel kennt. Als Lehrer vermag der Buddha letztlich nur für den
„verborgenen Lehrer“ im eigenen Innern zu sensibilisieren. In Hesses
"Siddhartha" ist diese Einsicht spiritueller Erfah-rung noch einmal
radikalisiert und individualistisch zugespitzt. Begegnet doch in Hesses
fiktivem Brahmanensohn Siddhartha dem Buddha ein moderner, europäi-scher
Individualist, der aus seinem tiefen Mißtrauen gegenüber Dogmen und
Institu-tionen heraus alle irgendwie formulierbaren Lehrmeinungen ablehnt.
Für den Weis-heit nur auf dem Weg individueller Suche im je eigenen
Erleben greifbar wird: auf einem Erfahrungsweg, den jede und jeder
selbst gehen muß. Hesses Siddhartha bleibt schließlich am Fluß bei
dem alten Fährmann Vasudeva, der gerade dadurch zu Siddharthas
entscheidendem Lehrer wird, daß er keine Lehre hat, ihn nichts in Worten
lehrt, Siddhartha vielmehr an den Fluß verweist. In der Meditation am Fluß
reift in ihm allmählich die Erkenntnis, was eigentlich Weisheit und das
Ziel seines langen Suchens sei: Es war nichts als "die Bereitschaft der
Seele... jeden Augen-blick, mitten im Leben, den Gedanken der Einheit zu
denken, die Einheit zu fühlen und einatmen zu können“ (V,454), so wie sie
der vielstimmig rauschende Fluß sym-bolisiert. „Alles war eins, alles war
ineinander verwoben und verknüpft, tausendfach verschlungen. Und alles
zusammen, alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alles Leiden, alle Lust,
alles Gute und Böse, alles zusammen war die Welt. Alles zusammen war der
Fluß des Geschehens, war die Musik des Lebens.“ (V,458) Darum also geht
es: Um die Grundverbundenheit mit dem Ganzen der Wirklichkeit, um
die mystisch-meditative Erfahrung der Einheit alles Seienden, mit
der sich für Hesse die Liebe zu allen Dingen und Wesen verbindet,
eine alles durchdringende Sympathie: „Das ist es, was sie mir so
lieb und verehrenswert macht: sie sind meinesgleichen. Darum kann ich sie
lieben ... Die Liebe, o Govinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu
sein. Die Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu ver-achten, mag
großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu
können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und mich
und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu
können.“ Govin-da empfindet denn auch sogleich den Widerspruch zur
weltüberwindenden Buddha-Lehre. Hatte der Erhabene nicht genau diese Liebe
als „Trug“ durchschaut? Hatte er nicht davor gewarnt, „unser Herz in Liebe
an Irdisches zu fesseln“, hat er nicht „Wohlwollen, Schonung, Mitleid,
Duldung, nicht aber Liebe“ geboten? "Ich weiß es, Govinda", antwortet ihm
Siddhartha, "da sind wir mitten ... im Streit um Worte ... Eben darum
mißtraue ich den Worten so sehr", erfolgt die Antwort Siddhartas, für
Hesse typisch, nicht von des Buddhas gelehrter Theorie, sondern von dessen
geleb-ter Praxis her, und in der Tat dürften sich christliche Liebe und
buddhistisches Mitleid zumindest in der Praxis berühren: "Ich weiß, daß
ich mit Gotama einig bin. Wie sollte denn auch Er die Liebe nicht kennen.
Er, der alles Menschsein in seiner Vergäng-lichkeit, in seiner Nichtigkeit
erkannt hat, und dennoch die Menschen so sehr liebte, daß er ein langes,
mühevolles Leben einzig darauf verwendet hat, ihnen zu helfen, sie zu
lehren! Auch bei ihm, auch bei deinem großen Lehrer, ist mir ... sein Tun
und Leben wichtiger als sein Reden ... Nicht im Reden, nicht im Denken
sehe ich seine Größe, nur im Tun, im Leben." (V, 466f)
Luise
Rinser: Mystik in Ost und West
"Die erste
religiöse Ostasien-Welle", erinnert sich Luise Rinser (*1911) in
ihrer Auto-biographie "Den Wolf umarmen" (1981),
"kam nach dem Ersten Weltkrieg. Damals schrieb Hermann Hesse sein
Buddha-Buch 'Siddhartha', das einige Jahre später tiefen Eindruck auf mich
machte, obgleich ich es eigentlich nicht verstand", bezeugt Luise Rinser
die kaum zu unterschätzende Wirkung von Hesses "indischer Dich-tung". Die
Berührung mit östlichen Religionen ist ja bis in die Gegenwart häufig ein
literarisch vermitteltes Phänomen! Als "ein alter junger Weiser"
sprach Hesse die damals 20jährige an. "Er hatte Erfahrungen, die ... wie
ein erlösender Regen über die intellektuell verkarstete europäische Jugend
kamen. Er sprach aus, wonach wir uns sehnten." (DWU 334) Die bayerische
Lehrerstochter hatte damals bereits die Reden Buddhas (in der Übertragung
von Karl Eugen Neumann), auch die Upanishaden und die Bhagavadgita
gelesen, ja, schon in ihrer Jugend hatte sie sich "für alles
inter-essiert, was aus dem Fernen Osten stammt" (SAS 87). Anfang der 30er
Jahre - "die Indien-Sehnsucht lag in der Luft" (DWU 334) -, noch ehe sie
Hesse und den Bud-dhismus näher kennenlernte, schrieb Luise Rinser eine
später vernichtete Erzählung mit dem Titel "Auf dem Dach der Welt", in der
sie eine Gruppe junger Menschen, europamüde und zivilisationsüberdrüssig,
nach Indien und Tibet aufbrechen, im Himalaja eine Art Kloster gründen und
ein spirituelles Leben führen liess.
Was Luise
Rinser an Hesses indischer Dichtung faszinierte, ist denn auch
auf-schlußreich für ihre eigene Sicht auf den Buddhismus: Hesses
"Siddhartha" be-zauberte sie, weil darin "das, was ich schon früher bei
Schopenhauer gefunden hatte, zu purer Poesie" geworden war: "die Idee
vom allumfassenden liebenden Eins-Sein alles Lebenden. Das traf
sich auch mit dem, was ich bei den deutschen Mystikern gefunden
hatte: die Idee der All-Liebe. Ich verstand, was Hesse seinen
Siddhartha, in den Fluß blickend, erleben läßt: das Eine Ganze, das 'Tat
twam asi', das Schlüsselwort: 'Das bist du', nämlich alles: Stein und
Pflanze, Tier und Mensch. Diese seine Liebes-Mystik traf mich und war mir
verwandt und verband sich mir mit dem Wort von C. G. Jung vom prinzipium
individuationis und der Vorstellung vom Leben als dem Pfad der
Selbstfindung."
Ähnlich wie
der junge Hermann Hesse gegen die Enge des schwäbischen Pietismus
rebbelierte, lehnte sich auch Luise Rinser schon früh gegen die Zwänge der
katholi-schen Kirche in Elternhaus, Schule und Internat auf. Die
Ablehnung und Ablösung von der Religion in christlicher Form
begünstigte denn auch bei der im bayerisch-barocken Katholizismus
Großgewordenen die Hinwendung zu asiatischer Religion und Spiritualität:
"Ich, vom Christentum nicht mehr berührt, griff mit Leidenschaft nach den
östlichen Lehren", berichtet sie aus den 30er Jahren. "Verstanden habe ich
sie nicht, aber sie sind in mich eingesickert und haben sich mit den
Grundwassern meines Wesens vereinigt." (DWU 331) Gerade ihre seit Anfang
der 70er Jahre er-schienenen Tagebücher und autobiographischen Schriften,
in denen Luise Rinser immer wieder Verbindungslinien von der
christlich-abendländischen Mystik zum Zen-Buddhismus und zum Taoismus
zieht, spiegeln ihre langjährige Beschäftigung sowohl mit der mystischen
Theologie des europäischen Mittelalters als auch der östlichen
Spiritualität. Von großer Bedeutung sind dabei ihre zahlreichen Reisen
nach Indien, Indonesien, Süd- und Nordkorea, nach Japan und China
seit Ende der 60er Jahre, kaum weniger bedeutsam ihre Begegnungen mit Lama
Anagarika Govinda, Sri Aurobindo und dem Dalai Lama.
Nicht von
ungefähr kommt Luise Rinser in ihren Tagebuchnotaten immer wieder auf ein
Thema zu sprechen, das sie seit ihrer Jugend beschäftigt, als sie mit 16
oder 17 Jahren erstmals mit Meister Eckart, Amos Comenius und Nicolaus
Cusanus in Be-rührung kam: das Verständnis von Gott und Welt als
Grundpolarität, als coincidentia oppositorum, das die Wirklichkeit
als große Einheit aller Dinge erfahren läßt. Diese mystische
Urerfahrung fand sie schließlich im chinesischen Taoismus ebenso
artiku-liert wie im Hinduismus oder im Zen-Buddhismus, in der jüdischen
wie in der islami-schen Mystik: "es gibt keine Gegensätze in der Welt, es
gibt keine Widersprüche, wir sind es, die sie schaffen; es gibt nur
Polaritäten, der Tag ist nicht Tag, wenn es keine Nacht gibt, das Leben
ist nicht Leben, wenn es nicht den Tod gibt, eins ist im andern
eingeschlossen, eines wird zum andern, alles wandelt sich, das Bleibende
ist der Wandel. Kühn zog ich daraus den Schluß, daß auch das Gute nicht
sei ohne das, was wir das Böse nennen, und daß Gott nicht sei ohne den
Teufel ... Jahrzehnte später gab ich einem meiner Bücher den Titel:
'Hochzeit der Widersprüche'." (DWU 145) Charakteristisch für das Denken
und Schreiben Luise Rinsers ist denn auch ein ökumenisch-universales
Einheitsdenken, das, ähnlich wie das Hermann Hesses, weniger das
Trennend-Dogmatische als vielmehr das Verbindend-Universale der grossen
Weisheits- und Religionstraditionen von "Ost" und "West" betont. Ein
religio-nen- und kulturenübergreifendes Denken in Synthesen, das zutiefst
von der spiritu-ellen Erkenntnis durchdrungen ist, daß "alle Religionen
auf unserem Planeten" letzt-lich in ein und derselben
mystisch-meditativen Grunderfahrung wurzeln: "Sie alle haben die
tiefste Tiefe gemeinsam", beschreibt Luise Rinser diesen mystischen
Kern aller Religionen mit Hilfe buddhistischer Begrifflichkeit: "das
Erlebnis der 'Leere', die wie das 'Nichts' erscheint, aber in Wirklichkeit
die Fülle ist: das 'Alles'." (SAS 195)
Religion als
Liebe zum Ganzen
"Alles ist
nichts. Nichts ist alles": Dieser buddhistische Rätsel- und Lebensspruch,
den ihr der Abt des südkoreanischen Klosters Bulgugsa mit auf den Weg gab
- in "Kriegspielzeug" (1978) ist der Besuch dieses buddhistischen Klosters
im Oktober 1975 eindringlich beschrieben (KS168ff) - zieht sich denn auch
wie ein roter Faden durch Luise Rinser autobiographische Schriften. Kaum
zufällig begegnet dieses Koan anläßlich des Besuchs eines alten
Zen-Tempels in Kyoto auf ihrer ersten Japanreise im Mai 1981 wieder: "Das
ganz große Schweigen habe ich erlebt im Zen-Tempel in Kyoto. Eigentlich
habe ich davon geträumt, einem Zen-Meister zu begeg-nen, aber es gibt ja
kaum mehr einen, in Nara sitzt einer, sehr alt, und er ist im Augenblick
nicht im Ort. Ich begegne also keinem, nirgendwo und doch: hier im Tempel
ist eine unsichtbare Gegenwart von Meistern ... in dieser Mittagsstunde
sind keine Touristen da. Ich hocke mich in einen der offenen Räume auf die
Bastmatte. Der Raum ist leer. Die große Schiebetür zum Garten hin ist
offen ... der Schatten einer Kiefer auf einem moosüberwachsenen Felsen,
über den ein Wasser rinnt. Es plätschert sanft und macht die Stille
hörbar. Das ist alles. Ja, das ist ALLES. Das ist Zen. Nichts ist Alles,
Leere ist Fülle." (WF 127) Diese Stille und diesen Frieden erfährt sie ein
paar Tage später vor dem großen Buddha im Daibutsu-Tempel noch einmal:
"Der Buddha ist nicht einfach groß, er ist riesig, aber er ist dennoch
nicht zu groß für den Menschenblick, er hat eben noch Menschenmaß. Das
Allzu-Große gibt sich in Menschennähe menschlich. Ein segnender Buddha. In
einer katholischen Kirche würde ich mich niederknien. Numen adest. Das
Göttliche ist anwesend ... Buddhismus und Christentum sind die Parallelen,
die sich im Unendlichen treffen." (WF 128-131). Paradigmatisch schließlich
auch die buddhistische Geschichte, mit der Luise Rinser die faszinierende
Haltung des Dalai Lama illustriert, der sie im 1994 sogar für eine Woche
nach Dharamsala einlud: "Es gibt eine buddhistische Geschichte: Ein Mann
wünscht dringend den großen Gautama Buddha zu sehen. Sein Freund sagt:
'Den kannst du doch nicht sehen, er ist schon lange tot.' Ein Dritter
sagt: 'Du kannst ihm begegnen: geh nur hinunter zum Markt, das erste alte
Bettelweib, der erste räudige Hund, das ist ER.' Er hätte auch sagen
können: Schau dich an, du selbst bist ER. Das ist buddhistische Mystik:
Alles ist EINS. Alles ist DAS EINE." (KDS 25)
"'Alles ist
Nichts, Nichts ist Alles', und alles ist unedlicher Liebe wert" (KDS 32),
greift Luise Rinser den für sie so wichtigen Grundgedanken von Hesses
"Siddhartha" wieder auf. Die Erfahrung, daß das, was die Wirklichkeit
zutiefst bestimmt, letztlich nur als Liebe, als allesdurchdringende
Sympathie beschrieben werden kann: "Das große Eine ... ich nenne es
Liebe" (SAS 137). Religion ist daher für Luise Rinser "nichts anderes als
Liebe zu allem und jedem, zum Ganzen, zum Sein und allem Seienden." (WH
15) Ähnlich wie Hermann Hesse erst tief in die Welt des Bud-dhismus,
Hinduismus und Taoismus eintauchen mußte, ehe er sich seine eigene
christliche Herkunft neu aneignen konnte, erschloß sich auch Luise Rinser
durch ihre langjährige Beschäftigung mit asiatischer Religion die
Bedeutung des Christlichen ganz neu: "Ich habe auf dem Umweg über die
östlichen Religionen unser abend-ländisches Christentum neu verstanden",
bekannte sie im Gespräch mit Karl-Josef Kuschel.
" Gott ist die große Sympathie, die alles zusammenhält ... Gott ist nicht
mehr 'da oben', sondern er ist der Gott-in-mir." Diese universelle
Sympathie ist in Jesus aufgeleuchtet: "für mich ist Jesus die Verkörperung
der universellen Sympathie",
umreißt Luise Rinser die Jesusdeutung ihres "Mirijam"-Romans
(1983), die sich ihr erst über die anderen Religionen, gerade den
Buddhismus erschloss. Als das "ewige Selbst in mir" ist dieser Christus
für Luise Rinser "in allen Religionen zu finden", "man gibt ihm dort nur
einen anderen Namen".
Wenn daher "alle religiösen Menschen auf unsrer Erde ihre Religion
wirklich verstehen und leben", ist Luise Rinser überzeugt, "werden wir uns
eines Tages mit Notwendigkeit in einem Punkte treffen." (MWR 58)
Adolf
Muschg: Japan, Zen-Buddhismus und Christentum
Wie kaum ein
anderes literarisches Werk der zeitgenössischen Literatur ist das des
Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg (*1934) von der Begegnung
mit dem Zen-Buddhismus und dem komplementaristischen
Einheitsdenken Asiens geprägt. Muschg war 1962 bis 1964 Deutschlektor
an der International Christian University in Tokyo, ist seither viele Male
in Japan und auch in China gewesen und zählt heute zu den wichtigsten
Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Zeitdiagnos-tisch aufschlußreich ist bereits sein in Japan spielender
Romanerstling "Im Sommer des Hasen" (1965), der die Ende der 50er,
Anfang der 60er Jahre einsetzende zweite Phase der westlichen
Buddhismusrezeption im 20. Jahrhundert spiegelt. Damals gab es in
Europa und Amerika "leider schon so etwas wie eine Zen-Mode" (XII,37),
stellte der über 80jährige Hermann Hesse anläßlich der Übersetzung des
Zen-Klassikers Bi-Yän-Lu seines "japanischen" Vetters Wilhelm Gundert
bedauernd fest, die bis heute von allen Zen-Übenden studiert wird. Gundert
ist damit - neben Eugen Herriegel, Karlfried Graf Dürckheim und vor allem
den beiden Jesuiten Hugo Enomiya Lassalle und Heinrich Dumoulin - einer
der wichtigsten Vermittler des Buddhismus nach Deutschland. Stand in der
westlichen Buddhismusrezeption bis in die 20er Jahre die fast
ausschließlich intellektuelle Auseinandersetzung mit den buddhistischen
Quellentexten des Pali-Kanons im Vordergrund, so traten nun vor allem die
Meditationsschulen des Buddhismus ihren Siegeszug in Deutschland,
Europa und Amerika an. Anfang der 60er Jahre erwachte ja vor allem unter
den Hippies und Blumenkindern der amerikanischen Jugend- und
Alternativkultur eine ganz auf meditative Praxis und Erfahrung
ausgerichtete Faszination für den Zen-Buddhismus. Dazu trat ab den 70er
Jahren zunehmend die Faszination für den tibetischen Buddhismus, der auf
Grund der Exilsituation vieler Lamas im Westen zugänglich wurde.
Muschgs
Japanroman "Im Sommer des Hasen" erzählt von sieben japanreisenden
westerners mit ganz unterschiedlicher Intention und Bereitschaft zur
Begegnung mit der für westliche Augen rätselhaft-faszinierenden Welt
Japans. In unserem Zu-sammenhang interessiert vor allem die tragikomische
Figur des Zen-Enthusiasten Adalbert Huhn, weil Muschg in ihr die
modisch-oberflächliche Zenbegeisterung er-leuchtungshungriger Abendländer
trefflich persifliert. Schon von der Schweiz aus hatte Huhn mit einem
Schüler des bekannten Zen-Meisters Daisetz Taitaro Suzuki Kontakt
aufgenommen, der entscheidend dazu beitrug, den Geist des Zen aus seinen
Klöstern in die westliche Moderne des 20. Jahrhunderts zu tragen. So war
Huhn bestens in den Zen-Buddhismus eingeführt, ehe er überhaupt
japanischen Boden betreten, ja, noch ehe er sich seiner harten
Meditationspraxis unterzogen hatte. Die „einfachsten Dinge des Zen,
Sitzen, Atmen" (SH 127), genügen ihm freilich nicht, er sucht Satori,
Erleuchtung, obwohl doch gerade diese „einfachen Dinge" die Hauptsache auf
dem Zen-Weg sind. Dass auch sie letztlich überflüssig sind, kann nur einer
sagen, der all dies selber praktiziert und erfahren hat. Bei seiner
Begegnung mit dem Abt des berühmten Zuiganji-Klosters in Matsushima weiss
Huhn denn auch „dem herzlich nickenden alten Mann das Tiefste und
Paradoxeste" darzu-legen. Seine angelesenen Weisheiten lässt er von einem
einheimischen Dünger-fabrikanten übersetzen, der davon jedoch so gut wie
nichts versteht. Am Ende lässt der Zen-Meister, nachdem er sich sehr
angeregt mit dem Düngermann über dessen Lebensumstände und über Dünger
unterhalten hatte, Huhn ausrichten, „He ist happy you are such a good
thinking man" (SH 132). Die „schalkhaften Segnungen des Zen-Buddhismus"
(SH 119), damals bereits "ein Snobismus von vorgestern" (SH 121), wie
Muschgs Erzähler spöttisch anmerkt, bleiben Adalbert Huhn denn auch trotz
seiner Bemühungen unzugänglich.
Ein Westler
kann sich davon viel Segensreiches herausnehmen
Daß der
Zen-Buddhismus, mit dem Muschg bereits während seines Studiums in Zürich
in Berührung kam, als er sich nicht von ungefähr Hesses
„Morgenlandfahrern" zuzählte, für ihn selber weit mehr bedeutet als nur
ein poetisch reizvolles Sujet, ist schon seinem 1963 verfassten
Erzählbericht „Subjekt und Objekt in Kamakura" abzulauschen, der
Muschgs Begegnung mit dem damals 93jährigen Zen-Gelehrten
Daisetz Suzuki in Japan literarisch verarbeitet: "Etwas aufregend
Waches ist um diesen alten Mann. Wir haben das bei andern Zen-Leuten
bemerkt: In wie hohem Grade Inneres Ausdruck gewordenen ist. Da hält kein
Geheimnis bedeu-tungsvoll an sich, kein Zeigefinger tippt an das
Glockenspiel und verdumpft seinen Klang ... Im Angesicht Suzukis kann man
sich einen Begriff davon machen, wie die berühmten Zen-Meister früherer
Jahrhunderte angetreten sind: strahlende Vagabun-den waren sie,
großgemusterte Schälke, die ihre Lumpen wie ihre Blöße zu Markte trugen,
vollständig unbekümmert, ob einer das Herz hatte, Gold hinter dem
Schau-spiel zu vermuten; und diese wenigen führten sie erst recht am
Narrenseil herum, bis einmal einer, stolpernd und atemlos, wie von
ungefähr auf den Punkt gelangte, Er Selbst zu sein - um dann als Meister
seinerseits Lumpensack und Fallstrick zu erben und lachend auf
Menschenfang zu gehen." (PW 49f)
Befragt nach
seiner persönlichen Affinität zum Zen-Buddhismus gab Muschg im
Gespräch mit Karl-Josef Kuschel denn auch programmatisch zu verstehen,
dass für ihn keine andere Religion „so klar wie der Buddhismus hinausweist
über untaugliche Alternativen wie Körper - Geist, Körper - Seele, Gut und
Böse, Schwarz und Weiss. Keine so sehr die Chance des Durchbruchs dieser
Raster eröffnet. Keine weniger das Bedürfnis hat zu missionieren und
auszugrenzen. Keine selbstverständlicher Lebenskunst, Lebensweisheit,
Liebe zum Alltag, Liebe zur Kleinigkeit und Einzelheit ist."
Hält man sich vor Augen, was Muschg über die "protestantischen
Finsternisse meiner Kindheit"
äußerte - über die Angstbesetztheit des Gottesbildes seiner Eltern, die
Lebens- und Körperfeindlichkeit ihrer rigiden reformiert-puritanischen
Erziehung, die dadurch vermittelten Schuldkomplexe, Leistungs-, Erfolgs-
und Rechtfertigungs-zwänge, die leitmotivisch Muschgs Erzählwerk
durchziehen -, wird zumindest nach-vollziehbar, warum er dem Christentum
diese "vor allem nötige Lebenskunst" nicht mehr zutraut: "Wenn Lessing
recht hat mit seinem Satz, daß man die Religionen an ihren Früchten
erkennen soll, dann schmecken die des Christentums bitter - auch für die
Christen selbst. 'Erlöster müßten sie aussehen, damit ich an ihren Erlöser
glauben könnte' (Nietzsche). Ich wünsche mir mehr Leibhaftigkeit - die ja
solange dem Teufel vorbehalten war. In Japan wäre das Spirituelle
konkreter, strahlender. Man erkennt einen Zen-Meister sofort an seinem
Lachen. Es ist eine Bewegung des ganzen Körpers."
Damit ist
das für Muschgs Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus entscheidende
Stichwort gefallen: die Überwindung des das westliche Denken weithin
bestimmen-den Dualismus von Subjekt und Objekt, von Kopf und
Körper, von Geist und Leib, Ja und Nein. "Gegenständlich,
'objektiv' zu denken, liegt in unserer Tradition, ist eine teuer erkaufte
Gewohnheit des westlichen Bewußtseins. Aber darin erschöpft sich das
Repertoire des Bewußtseins glücklicherweise noch lange nicht".
Im Raum der abendländischen Überlieferung müsse man auf die "Gottlosigkeit
der christlichen Mystik" zurückgreifen, "um im Christentum eine
vergleichbare Empfindlichkeit zu finden", weiß Adolf Muschg. Auf Angelus
Silesius und vor allem auf Meister Eckhart, "dessen sogenannte 'Mystik'
darin besteht, die religiöse Erfahrung vom Zwang zum Gegenständlichen zu
befreien, um sie - das ist aber mehr buddhistisch als christlich - für die
Liebe zu den Gegenständen wirklich frei zu machen".
"Die Gottlosigkeit der christlichen Mystik war ein Wagnis. Diejenige der
buddhistischen Lehre ist eine gelassene Selbstverständlichkeit. 'Gott' ist
eine Hilfsvorstellung, von der sich schon der Schüler Buddhas lösen lernt.
Er kennt keinen 'heiligen Namen', keinen 'Herrn Zebaoth', auch keine
Stellvertreter am Kreuz. Darin sieht er - ohne Polemik - die ungedeckten
Reste kindlicher Geborgenheitswünsche oder metaphysischer
Sicher-heitsbedürfnisse, in einen imaginären Himmel projizierte
Größen-Phantasien von Menschen, die mit ihrer Unerlöstheit nichts Besseres
anzufangen wissen, als nach einem Erlöser zu schreien. Ein solcher Gott
mag ehrwürdig sei wie alles Allzumenschliche. Aber mit Religion hat er
noch nichts zu tun. Unsere Kultur ist in so hohem Grade auf einen
'persönlichen Gott', auf die Du-Form mit dem Erlöser geprägt, daß wir uns
A-Theismus nur irreligiös vorstellen können."
Wovon in den
Religionen die Rede ist: SEIN
1985, gut
zwanzig Jahre nach seiner Begegnung mit dem damals 93jährigen
Zen-Gelehrten Daisetz Suzuki, schildert Muschg im Feuilleton der
"Frankfurter Rund-schau" seine "Erfahrungen in einem japanischen
Zenkloster" im Norden von Tokyo im Mai desselben Jahres. "Also wieder
einer, der die Widersprüche seiner Zeit-genossenschaft nicht mehr
ausgehalten hat und ins Innerliche abgeschwenkt ist",
läßt Muschg einen kritischen Leser ausrufen. "Aussteigen?
Einsteigen!" ist denn auch sein Erfahrungsbericht pointiert
überschrieben. Gewiß, eine religiöse Erleuch-tung habe er auch bei dieser
"Zen-Schnupperlehre" nicht erlebt, weist Muschg gleich zu Beginn die
Erwartung zurück, hier würden außergewöhnliche Erleuchtungserfah-rungen zu
Protokoll gegeben: "Wenig Worte darüber, überhaupt keine Worte 'über',
lieber die noch so bescheidene Tat, die sie erübrigte; das wovon in den
Religionen die Rede ist, SEIN."
Im Gespräch
mit Karl-Josef Kuschel hatte Muschg erklärt, er wolle "von dem Wort
Religion wegkommen und es ersetzen durch das, was es bedeutet: Bindung
oder auch Erfahrung des Eingebundenseins", "aus dem Zentrum, dem
Schwerpunkt des Da-seins zu leben und zu arbeiten". Muschgs
Zen-Kloster-Aufsatz macht denn auch eindringlich die Faszination der
offensichtlich ganz "anderen" Spiritualität und Religiosität des
Buddhismus im Westen anschaulich: "Die Arbeit am Buddha in uns selbst ist
bei weitem anspruchsvoller und radikaler als jeder Dienst, der unter Druck
von außen und oben geleistet wird. Ich empfand sie aber auch als
nachbarlich subtiler, menschlich einfallsreicher, sorgfältiger als jede
Art Dienst an einem persönlichen, in der Du-Form gedachten und
angesprochenen Gott, wie er einem im westlichen Christentum begegnet. Denn
im Zen-Kloster gibt es wohl das gemeinschaftliche Sutra-Lesen, das
Händefalten nicht nur zum Tischgebet, sondern auch beim Empfang jeder
einzelnen Speise, es gibt natürlich die Erfahrungen, die wir auf unserer
Seite der Welt 'religiös' zu nennen pflegen. Aber es gibt ausdrücklich
keinen Gottesdienst, sowenig wie es einen Sonntag und Werktag gibt.
Arbeitstag und Feiertag sind ebenso dasselbe wie Meditation und Arbeit.
Wenn Beten und Essen, Zähneputzen und Betteln, Reden und Nicht-Reden nicht
aus einem Geist geschehen, geschieht keins von beiden recht. Muß
man Religion nennen, was nichts anderes ist als höchste Lebensart,
Aufmerksamkeit für den Nächsten und für das Nächste, Anwesenheit dessen,
was ich bin, in dem, was ich tue, nicht morgen, nicht jenseits, sondern
hier und jetzt? Ich habe im Kloster erlebt, daß Leben mit sich eins sein
kann, und mit seinem scheinbaren Gegenteil, dem Tod; und daß es, wenn
alles gleich gültig ist, nichts Gleichgültiges mehr gibt. Das ist etwas
mehr, als ich bisher in der Politik oder in der Literatur, im Gespräch
oder in der Liebe gelernt habe. Ist dazu ein Leben im Zen-Kloster nötig?
Bei mir war es nötig: als Erfahrung, daß das Selbstverständliche schwer
ist, aber möglich. 'Der gleiche Wind weht überall', steht auf der
Kalligraphie, die mir der Meister mitgegeben hat. Ja, wenn wir nur die
Nase haben, um die wir uns diesen Wind wehen lassen können: dann besteht
die erste kleine Erleuchtung vielleicht darin, ihn vom eigenen Atem nicht
mehr zu unterscheiden. Ein innerliches Geschäft? Ganz im Gegenteil. Und
dann: warum eigentlich 'im Gegenteil'?"
Dr.
Christoph Gellner, Luzern
(Dr. Christoph Gellner ist Lehrbeauftragter
an der Universität Luzern, Schweiz.)
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