Das Vipassanā
alseine
Kern – Traditionund - Meditation,
im Überblick
Die
Achtsamkeits- oder Einsichtspraxis „Vipassanā“: die dritte
Haupttradition des Buddhismus im
Abendland
Hans
Gruber
Dieser Text geht von einem
Vortrag auf der Konfe-renz „Buddhismus in Wissenschaft und
Praxis“
(Oktober 2000) in Hannover aus,
ist eine stark erwei-terte Schriftfassung.
Zur
Begriffsbestimmung
Pali „Vipassanā“ wird
als höheres Sehen, intuitives Wissen oder inneres Verstehen
verstanden, mit einer „klar unterscheidenden“ oder
„blickenden“ Qualität (Vi). Die heute weltweit ein einflussreichste
Vipassanā-Tradition, das Körperhineinfliessen „Body
Sweeping“, definiert den Begriff so: „Die Dinge sehen, wie sie
wirklich sind, nicht wie wir sie gerne
hatten oder sie uns vorstellen“.
U Ba Khin. der Begründer des Sweeping. betont: „Die
Vipassanā-Meditation bezweckt das Bewusstwerden des
Prozesses der Veränderung von einem
Moment zum anderen“. Demnach beschreibt „Vipassanā“ ein
meditatives Ziel: jene innere Klarblicks-Schau, die von der illusionären Grundsicht
aus „Nichtsehen, und somit Durst
oder Ergreifen“, laut Buddha kurz „vom Leiden“, befreit. Aber der
Begriff steht heute mehr für
eine Praxisform: die bekannteste des Frühbuddhismus „Theravāda“
(Lehre der Ältesten), der
heute in Südostasien und auf Sri Lanka vorherrscht. Der Theravāda
beruht auf dem Pali-Kanon, mit den ältesten voll überlieferten
Reden des „Buddha“ oder „.Erwachten“. (6.-5. Jh. v. Chr.,
Indien). Die Vipassanā-Meister werden in Südostasien
besonders hoch verehrt. Der wichtigste Neuübersetzer dieser
alten Reden, Bhikkhu Bodhi,
versteht
das Vipassanā als das „Kronjuwel von Buddhas Lehren“.
Das
Zen, der tibetische Buddhismus und das Vipassanā (eigentlich „die
Vipassanā“; aber "das" hat sich hier eingebürgert)
stellen heute die drei einflussreichsten Traditionen des Buddhismus im
Westen dar. Das Vipassanā umfasst als eine vielgestaltige
Praxisform, die immer jene tief befreiende oder „innere“
Klarblicks-Schau bezweckt, eine breite Palette entweder natürlicher
oder eher technischer meditativer Schulungen der „sehenden
Achtsamkeit“ (sati paññā), oder der intuitiv verstehenden
Bewusstheit. Laut der Doktor arbeit von Gustaaf Houtman1 gibt
es gegenwärtig alleine schon in Burma, wo das Vipassanā breit
praktiziert wird, 24 Ansatze.
Was bei dieser Meditation
entwickelt wird. ist also nicht bloß die Achtsamkeit als eine reine
oder vermerkende Beobachtungsfähigkeit. sondern jene hineinsehende
„Achtsamkeit in Weisheit“ (sati paññā). So definiert Ajahn
Buddhasa, mit Ajahn Chah der einflussreichste Meister in der Geschichte
Thailands und der Begründer eines weiteren Vipassanā-Hauptansatzes
(die Natur-Methode oder die Leerheit alles Dinge), „mindfulness“
etwa als „Weisheit in Aktion“. In diesem Sinne betont ebenso der
holländische Mönch und Vipassanā-Lehrer Dhammavīranātha:
„Die Achtsamkeit ist wie ein helles Licht, das auf einen Prozess
geworfen wird, wodurch ihn die natürliche Weisheit versteht, wie er
wirklich ist“. Dies heißt: unsere natürliche. eingeborene Weisheit
„will“, ständig durch den Schein hindurchsehen, aber die aus
unserer konditionierten Fehlsicht von „Ich“, „Mein“ oder
getrenntem „Selbst“ hervorgehende Unbewusstheit verhindert
dies. Aber jene natürliche Weisheit tritt automatisch befreiend „in
Aktion“, sobald die Achtsamkeit vergegenwärtigt wird. Deshalb ist der
beste Begriff. um sowohl das innere Ziel als auch den Weg des Vipassanā
zu umfassen: „Einsichtsmeditation“.
Die tuchfühlend all unsere Erfahrungen genau betrachtende, still
und leise für sich kultivierte und durchsehende „Meditation“ (als
Bewusstwerdung des natürlich Gegebenen, prozesshaft oder
„Selbst“-los Ablaufenden und gesetzmäßig Geltenden in körperlicher
wie geistiger Hinsicht) hat bei allen Vipassanā-Ansätzen die
Hauptrolle, lediglich jeweils auf eine unterschiedlich vorgehende und
methodische „Innenweise“.
Die vier
Hauptsätze des Vipassanā
U Ba Khin (11899-197l) und vor
allem sein Hauptschüler Sacya Narayan Goenka (geboren 1924) haben das
„Körperhineinfließen" (Body Sweeping) weit über Burma hinaus
bekannt gemacht. 1999 partizipierten an diesem heute weltweit am stärksten
wachsenden Ansatz des Vipassanā in rund 80 Ländern 100 000
Menschen an den zehntägigen Meditationskursen. Vier Jahre zuvor waren
es 60 000. Eine Ordination ist hier nicht möglich, bei den anderen drei
Hauptansätzen des Vipassanā schon - dem „Benennen“ des
Burmesen Mahasi Sayadaw (1904-1982), der „Natur-Methode oder Leerheit
aller Dinge“ des Thailänders Ajahn Buddhadāsa (11906-1993), und
dem „Weg der Ordensgemeinschaft“ seines Lands-mannes Ajahn Chah
(1918-1992). Die letzteren beiden
Gründermeister gelten als die einflussreichsten Meister in der
Geschichte Thailands. Sie stehen in der thailändischen
„Waldtradition“ - einer innerklösterlichen Reformbewegung, die aber
mit ihren charis-matischen Meditationsmeistern im Geist des Urbuddhismus
auch immer eine sehr ausgeprägte, „bewegende“ Wirkung auf die Laien
gehabt hat. Die Ordenstradition Ajahn Chahs ist die größte monastische
Tradition Südostasiens. Sie wird gegenwärtig von rund 400 Klöstern
in Thailand sowie einem starken Zweig in den westlichen Ländern
vertreten. In diesen Klöstern leben lediglich westliche
Ordinierte mit westlichen Äbten und Äbtissinnen. Dieser Zweig bedeutet
ebenso ein historisches Novum: die erste erfolgreiche Etablierung eines
theravāda-buddhistischen Ordens im Abendland.
Ajahn Buddhadāsa ist ein
Hauptvater des Engagierten Buddhismus in Ost und West. Viele
einflussreiche Persönlichkeiten Südostasiens sind tief von ihm geprägt.
Seine niedergeschriebenen Vorträge und Bücher füllen einen Raum in
der thailändischen Nationalbibliothek. Er hat die Kernprinzipien des frühen
Buddhismus, die nach seiner Einsicht allmählich unter den späteren
kulturellen und konzeptuellen Zutaten verschütt gegangen waren, für
unsere moderne Zeit wiederbelebt. oder sie für eine befreiende,
engagierte Alltagspraxis umgesetzt. Im Mittelpunkt seines Denkens steht
die universelle Leerheit. die er als Herzlehre des Erwachten betrachtet.
Neben den Reden des Buddha und der Ordensdisziplin ist der dritte
„Korb“ des Pali-Kanons der Abhidhamma, mit dem die
Direktworte des Erwachten theoretisch und kategorisierend ausgedeutet
wurden. Dieser Korb ist als ein Ausdruck des menschlichen
Systematisierungsbedürfnisses zum Großteil erst spät entstanden, bis
einige Jahrhunderte nach Christus. Ajahn Buddhadāsa versteht den Abhidhamma
nicht als den „höheren Dhamma“ (die verbreitete Übersetzung von
„Abhidhamma“), sondern als den „Überfluss-Dhamma“. Dieser
Vipassanā-Gründermeister hat den traditionellen Lehrbetrieb jung
verlassen, um sich im Wald ganz seinen unabhängigen Studien und der
meditativen Verinnerlichung zu widmen.
Die thailändische Waldtradition
gehört zum Vipassanā, wenn man unter „Vipassanā“ nicht
bloß im engeren Sinne eine klar strukturierte „Methode“,
sondern ebenfalls die natürlichen Achtsamkeits- und
Kontemplationswege fasst, welche in die voll befreiende oder ungetrübte
Schau der „Drei Daseinsmerkmale“ (ti-lakkhana) münden - alles
bedingt Entstandene ist flusshaft-vergänglich „anicca“, somit
letztlich nicht tragfähig, ungreifbar, unfixierbar, nicht hinreichend
beziehungsweise keinen Stand oder Anhaltspunkt für unsere
„Selbst“-Identifikation bietend „dukkha“, was es zusammen frei
von jedem Selbst“anattā“ macht. Laut den Reden des Pali-Kanons
ist alles Bedingte und sogar das Unbedingte „das Nicht-Selbst“
(anattā). Doch das Unbedingte (nibbāna) ist nicht anicca und
dukkha, weil es (eben in seinem durchweg freien, unbegrenzten oder
ungetrennten „Nicht-Selbst“ -Wesen) permanent und endgültig tragfähig
ist. Aber der Ausgangspunkt, um diese Allgültigkeit der anattā zu
sehen, ist immer bloß das achtsame Sehen des Bedingten. Hier liegt der
tiefste Grund für die anti-spekulative, ganz allem Natürlichen
zugewandte Haltung der Praxislehre des Erwachten. Deshalb heißt er in
der Indologie der „Erlösungspragmatiker“.
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1 The
Tradition of Practice among Burmese Buddhists, University of London , School
of Oriental and African Studies, 1990. |