Religiöse
Überlieferung
Der
Silberstrom
Ein
vietnamesisches Märchen
Tien-Tung
Nguyen-Khac
Dieses Märchen wird auch in den
Ländern China, Korea, Vietnam .... erzählt. Der Kaiser JADE und die
Unsterblichen (hier die Feen) kommen im Taoismus vor. Ein Hauch von
Konfuzianismus ist deutlich in der Vorstellung des Pflichtbewusstseins
zu erkennen.
Die Redaktion
In wunderschönen klaren Nächten
blicken die vietnamesischen Kinder oft
zu den Sternen am Himmel und machen miteinander einen Zählwettbewerb,
indem sie versuchen, solange wie möglich die Sterne anzusehen und zu
sagen:“Ein Stern, der leuchtet, zwei Sterne, die leuchten..“, bis
sie nicht mehr können, besonders, wenn sie auf die Milchstrasse
blicken. Wie könnten sie denn auch die zahlreichen Sterne dort zählen,
welche einen Streif am Himmel bilden? Es führt aber die Kinder bald
dazu, an eine Geschichte zu denken, die sie einmal von ihren Eltern oder
Großeltern gehört haben?
Damals herrschte nämlich in
diesem blauen, hohen Himmel der Kaiser der Jade, der gütig und tolerant
war. Der Jade-Kaiser hatte eine wunderschöne Tochter, die Chuc-Nu hieß.
Sie war aber nicht nur schön, sondern auch fleißig und hatte viele
Talente. Sie brachte den Feen im Himmel bei,
schöne Melodien zu singen, zu musizieren und zu tanzen.
Dank ihrem anmutigen Geschmack hatten die Feen herrliche,
wellenreiche Kleider. Chuc-Nu selbst hatte die Seide für die
Anfertigung der Kleider gewebt. Sie war so emsig bei der Arbeit, dass
sie, wenn sie keine andere Verpflichtung zu erfüllen hatte, den ganzen
Tag bis tief in die Nacht am Webstuhl saß. Während der Pause erhob sie
ihre sanfte Stimme, um wunderschöne Lieder zu singen oder erhabene
Gedichte zu rezitieren. Ihr Arbeitsplatz lag am Ufer des Silberflusses,
der sich wie ein leuchtendes Tuch erstreckte. Hier blieb das Wetter zu
allen Zeiten angenehm mild. Die Stimme Chuc-Nu’s erklang über den
Strom bis zur anderen Seite, wo Nguu-Lang, der Büffelhirte des
Jade-Kaisers sie mit Aufmerksamkeit verfolgte. Von der Stimme
fasziniert, aber auch von der Neugier getrieben, wollte sich der Büffelhirte
der Singenden nähern. Die Gelegenheit bot sich, als er die Büffel zum
Fluss führte. Er war überwältigt
von der stillen, majestätischen Schönheit Chuc-Nu's. Tief in die
Arbeit versunken, bemerkte Chuc-Nu gar nichts. Ihre schneeweißen Hände
bewegten das Weberschiffchen und ihre
Lieder
harmonisierten mit dem Wellenrhythmus des Stromes.
Auf einmal hatte sie das Gefühl,
dass jemand sie heimlich beobachtet und plötzlich bemerkte sie die
Blicke des Büffelhirten. Ein unerklärliches unruhiges Gefühl bemächtigte
sich ihrer, das aus einem früheren Leben herzurühren schien. Der
leidenschaftliche Blick des
Hirten ergriff das Herz von Chuc-Nu und sie wurde von dem einfachen,
aber gut aussehenden jungen Mann tief beeindruckt. Tage und Monate
vergingen, die Geräusche des Weberschiffchens setzten an dieser Seite
des Silberstroms ihren Rhythmus fort. Am anderen Ufer wurde die Büffelherde
wie früher gewissenhaft beaufsichtigt. Was nun anders geworden war, war
das neuartige Gefühl - schön und doch unbestimmt zugleich - das in den
Herzen der jungen Leute begann aufzublühen.
Nguu-Lang bewunderte weiterhin stillschweigend die Schönheit der
Seidenweberin am anderen Ufer des Flusses, machte sich jedoch nur
geringe Hoffnung, dass seine Liebe von ihr erwidert werden würde. Mit
seiner einfachen, natürlichen Seele dachte er, dass die geliebte
Tochter des Jade-Kaisers einem anderen ihr Herz geschenkt habe. Denn in
dieser Himmelswelt gab es sicher nicht wenige,
die ihrer würdig wären.
Aber wer kann seine eigenen
Kinder besser verstehen als der Vater?
Der Jade-Kaiser hatte nach verschiedenen
Beobachtungen und Besuchen am Silberfluss die Seelen seiner
Tochter und auch seines Büffelhirten durchschaut. Der Jade-Kaiser rief
Nguu-Lang und Chuc-Nu zu sich und gab
ihnen seine Einwilligung, zu heiraten. Er hatte keine Bedenken
wegen des Standesunterschiedes und gab nur eine einzige
Bedingung bekannt. Beide jungen Leute müssten nach den
Flitterwochen die Arbeit fortsetzen, welche der Jade-Kaiser
Ihnen früher übertragen hatte. Denn für ihn war es wichtig,
dass man seine Aufgaben
fleißig und gewissenhaft durchführt. Die
kaiser-liche Einwilligung entsprach genau dem stillschweigenden
tiefen Wunsch von Nguu-Lang und Chuc-Nu.
Sie konnten nichts
anderes als "ja" sagen und versprachen, seiner würdig zu
sein und die kaiserliche Bedingung zu erfüllen.
Die Hochzeitszeremonie wurde
feierlich, aber auch fröhlich, durchgeführt. Wunderbare Musik schien
die paradiesische Himmelslandschaft
noch schöner und wärmer
zu machen. Die grazilen
Feen streuten Blumen auf den Weg des
Hochzeitspaares. Dann kamen die Flitterwochen. Nguu-Lang
und Chuc-Nu genossen die
unbeschreiblich glücklichen Tage.
Ihr Glück stand in voller Harmonie mit der äußeren
Himmelslandschaft. Das Paar, tief in der Liebe versunken,
wanderte durch das Universum. Das Weltall ist aber grenzenlos
und mit verschiedenartigen Schönheiten ausgestattet. Wie und
wann sollte das Paar seine Hochzeitsreise beenden?
An den Ufern des Silberstromes
hatten unterdessen die Spinnen
ihre Netze
am unbetriebenen Webstuhl von
Chuc-Nu gebaut, während die früher von Nguu-Lang beaufsichtigten
Büffel in den Himmelsfeldern vagabundierten und sogar die
Ernte zerstörten. Geduldig wartete der kaiserliche Vater auf die
Rückkehr des Hochzeitspaares, das er schließlich zurückrufen
lassen musste. Je mehr der
Jade-Kaiser als Vater sanft und gutmütig
war, desto strenger war er als derjenige, der die Arbeit
hochschätzte. Er bestrafte Nguu-Lang und Chuc-Nu, indem er
ihnen den Befehl gab, dass nun beide ihre früheren Arbeiten
nicht nur durchführen sondern getrennt durchführen sollten, und zwar jeder an einer Seite des Silberflusses. Sie durften
sich während des ganzen
Jahres nicht treffen, außer im siebten
Monat des Mondjahres, der Ngau-Monat heißt. Sie
verabschiedeten sich unter Tränen,
nach den so glücklichen, aber
pflichtvergessenen Tagen. Nun lebten sie wieder im alten
Rhythmus, nur mit einem Unterschied, dass sie, obwohl sie jetzt
Eheleute waren, nicht zusammen leben durften.
Wer könnte sie jedoch hindern,
ununterbrochen aneinander zu denken?
Beide arbeiteten fleißig und hofften auf die baldige Wiederkehr des siebten Monats jeden Jahres, um den Fluss überqueren
zu dürfen, der sich wie ein leuchtendes Tuch
zwischen ihnen erstreckt und das Ehepaar immer trennt. Das
jährliche Wiedersehen ist für sie immer sehr aufregend. Beide
freuen sich so sehr darauf, dass sie ihre Tränen nicht halten
können. Nach den Tränen der Freude folgen aber schon wieder die Tränen des
Abschieds. Auf der Erde regnet es deshalb in
diesem Ngau-Monat ununterbrochen, was den Boden nach
einem trockenen Sommer fruchtbar macht. Während dieser
Regenzeit sind die Raben auf der Erde verschwunden und von
Generation zu Generation erzählen die Bauern, dass die Raben
alle zum Himmel geflogen sind, um eine Brücke von einem zum anderen Ufer des Silberstromes für Chuc-Nu und Nguu-Lang zu
bilden, auf der die Liebenden zu ihrem glücklichen Treffen gehen
können.
neu
erzählt von
Nguyen-Khac
Tien-Tung
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